Mädchen sind halt nicht so gut in Mathe! Mit diesem so saloppen wie verheerenden Spruch wurden die Frauen in den Achtzigerjahren noch vertröstet, wenn sie in der Schule mit Bruchrechnen und Dreisatz kämpften. Dass dies nicht stimmt, beweist aktuell die amerikanische Mathematikerin Karen Uhlenbeck, die am 19. März als erste Frau mit dem Abel-Preis ausgezeichnet wurde. Dieser gilt neben der Fieldsmedaille als weltweit höchste Auszeichnung für mathematische Forschung. Das ist erfreulich, trotzdem ist noch nicht alles eitel Sonnenschein in der Welt der Zahlen. An der ETH Zürich zum Beispiel sind derzeit 21 Prozent der Mathematikstudierenden auf Bachelorstufe Frauen, auf Masterstufe gar nur 15 Prozent. Die Verteilung der Geschlechter über alle Disziplinen der ETH hinweg gesehen ist schon etwas ausgeglichener: 31 Prozent Frauen auf Bachelor- und 32 Prozent auf Masterstufe, zeigen Zahlen von 2017.
Lösungen voller Eleganz
Im Departement Mathematik der ETH hat man das Minus erkannt. Eine Gruppe von Frauen hat deswegen die Initiative ergriffen und eine Charmeoffensive lanciert, um zu zeigen, dass Mathematik attraktiv ist; zum Beispiel mit der eben zu Ende gegangenen Veranstaltung «goMATH – Women in Mathematics». Eine von ihnen ist Laura Keller, Senior Scientist, eine ranghöhere Wissenschaftlerin, im Departement. Die talentierte Pianistin vergleicht Mathematik mit Musik: «In beiden geht es um Schönheit. Wenn ich die Lösung für ein mathematisches Problem gefunden habe, dazu aber einen hässlich geführten Beweis liefere, ist das nicht dasselbe, wie wenn ich dafür eine einfache elegante Argumentation präsentiere.»
Die 37-Jährige kommt im von Männern dominierten Umfeld gut zurecht. Sie erklärt: «Ich besuchte eine ganz kleine Primarschule, in der ich zeitweise das einzige Mädchen war. So habe ich gelernt, mich durchzusetzen.» Es brauche Kampfgeist, um es im kompetitiven Umfeld einer Hochschule zu schaffen.
Je abstrakter, desto besser
Auch die 21-jährige Studentin Emie Sun, die im Sommer an der ETH ihren Bachelor in Mathematik machen wird, gehört zu der Gruppe, die andere Frauen für Mathematik begeistern will. Mathe war schon immer ihr Ding: «Ich wusste das Einmaleins auswendig, bevor ich schreiben konnte. Und meine Mitschüler fanden es lustig, wenn ich im Kopfrechnen schneller war als die Lehrerin.»
In der Kantonsschule holte Sun in der Mathematik einen Sechser nach dem anderen ab, nur in der Geometrie haperte es. Das Mädchen erklärte sich das so: «Man sagt ja, Frauen hätten ein schlechteres räumliches Vorstellungsvermögen.» Sie war also selbst nicht vor stereotypen Vorstellungen gefeit, die sie aber im Studium überwand, wo sie die Geraden und Winkel gezielt anging. «Heute sage ich nicht mehr, dass ich Geometrie nicht kann.» Abstraktere Bereiche zieht sie aber weiter vor: «Mathematik ist eine Spielerei für das Gehirn.» Sie schwärmt von einem Seminar über Primzahlen und erklärt: «In der Mathematik ist es möglich, ganz einfache Fragen zu stellen, die jeder verstehen kann, und genau damit in die tiefsten Theorien vorzudringen.»
Emie Sun kann sich an Mitstudenten erinnern, die sie als Mathematikerin zunächst nicht sehr ernst nahmen. «Bis ich die ersten Noten bekam», sagt sie. Sie denkt, dass Männer oft weniger Selbstzweifel haben als Frauen. «Sie sagen sich einfach: Ich kann das. Frauen dagegen fragen sich ständig, ob sie wirklich gut genug sind.» Sie findet aber, dass Frauen im Mathematikstudium an der ETH gut unterstützt werden: «Niemand muss Angst davor haben.»
Mit dem Vorurteil, dass Frauen Mathe halt nicht so können, sind die Differenzen zwischen den Zahlen männlicher und weiblicher Studierender in den entsprechenden Studienrichtungen also nicht zu erklären. Und ganz gewiss nicht die Tatsache, dass je höher die akademischen Grade, desto weniger Frauen in der Akademie zu finden sind. Übrigens: Die erste ordentliche Mathematikprofessorin an der ETH Zürich ist seit 2005 Sara van de Geer. Sie ist Statistikerin und damit in der angewandten Mathematik zu Hause. In der sogenannten reinen Mathematik ist an der ETH noch immer keine volle Professur mit einer Frau besetzt.
Ein System alter Herren
Das ist am Institut für Mathematik der Universität Zürich anders. Mit der weissrussisch-schweizerischen Doppelbürgerin Anna Beliakova hat dieses seit 2010 eine Professorin, deren Spezialbereiche in die Sphären der reinen Mathematik gehören. Beliakova kennt die Tücken für ambitionierte Forscherinnen. «Ab einem gewissen Niveau gelingt es vielen Männern nur schwer, Frauen als gleich kompetent zu betrachten», sagt sie. «Fast alles, was ich früher gelernt habe, habe ich von Männern gelernt. Ich wurde fantastisch unterstützt. Ich hatte nie den Eindruck, dass mir als Frau besondere Steine in den Weg gelegt wurden. Bis ich schliesslich das höchste Level erreichte.»
Als Beliakova nämlich vor zehn Jahren zur Mathematikprofessorin an der Universität Zürich berufen wurde, kam es nachträglich zu unschönen Szenen: Einige Kollegen stellten ihre Forschung in Frage und verlangten von ihr, quasi als Kompensation für das angebliche Defizit, ein doppeltes Pensum an Unterrichtsstunden zu übernehmen. «Das war natürlich weder fair noch offiziell durchsetzbar. Dies habe ich nicht akzeptiert», sagt Beliakova. «Der einzige Sinn dieser Aktion bestand darin, mir das Gefühl zu vermitteln, nicht zu genügen. Ich hätte mir eine motivierendere Begrüssung vorstellen können.»
Heute mag sich die 50-Jährige nicht mehr fragen, ob sie sich angenommen fühlt, sondern blickt selbstbewusst nach vorn. «Wir brauchen Diversität auf allen Stufen. Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Meinungen ist die beste Art, Stereotypen zu bekämpfen. Damals, unter der Herrschaft vor allem älterer Männer, war daran nicht zu denken. Hier haben wir inzwischen deutliche Fortschritte erzielt.»
Kinder und Forschung unter einen Hut
Auch Beliakova engagiert sich für Geschlechtergerechtigkeit. Als Vorstand im nationalen Kompetenzzentrum Swissmap (Swiss Mathematical Physics) unterstützt sie spezielle Mentoring-Programme. Diese sollen Frauen dazu animieren, weiterzuforschen, wenn sie Kinder bekommen. Und es gibt auch handfeste Hilfe: Junge Forschende, die Kinder betreuen müssen, werden zum Beispiel von gewissen Lehrpflichten befreit.
Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern sagt heute: «Ich war das, was man in der Schweiz eine Rabenmutter nannte. Meine Tochter und mein Sohn gingen an fünf Tagen in der Woche in die Kinderkrippe. Das Konzept stimmte aber für alle: die Kinder, ihren Vater, unsere berufliche Entwicklung, inklusive meiner Forschung.»
Man kann also festhalten: In der Mathematik müssen Frauen gleich mehrere handfeste geschlechterspezifische Hindernisse überwinden, um ganz nach oben zu kommen: Erstens das Stereotyp, dass Frauen Mathe nicht können, zweitens die männerdominierten Dynamiken und drittens die gesellschaftliche Norm, dass die Mütter für die Kinder verantwortlich sind.
Da passt auch der Grund perfekt, warum Beliakova Mathematik so liebt: «In ihr steht die Erkenntnis in ihrer reinsten Form im Vordergrund, völlig losgelöst von Meinungen, Vorurteilen oder gesellschaftlichen Normen. Und diese Erkenntnis zu gewinnen, erfüllt mich mit Freude.»
Mehr Wissen auf higgs – dem Magazin für alle, die es wissen wollen.