Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem 35 Kilometer langen Stau feststecken und von weitem das Wummern der Bässe der Party des Jahrhunderts hören. Eine Party, die Sie nicht erreichen. Eine ätzende Vorstellung.
Für einen Grossteil der Menschen, die im Sommer 1969 nach Bethel im Bundesstaat New York fuhren, war sie Realität. Dort fand das Musikfestival Woodstock statt, das am 15. August seinen 50. Geburtstag feiert. Es war benannt nach einer nahe gelegenen Kleinstadt und entwickelte sich zu einem riesengrossen Chaos.
Eigentlich hatten die Veranstalter mit 50 000 Hippies gerechnet. Für 200 000 wären sie einigermassen gewappnet gewesen. Es kamen eine halbe Million. Noch nie hatten sich in der westlichen Welt so viele Menschen an einem Ort zusammengefunden.
Was damals drei Tage lang auf Feldern passierte, die von Wald und einem grossen Teich eingerahmt waren, hat die Art, wie Menschen sich und andere sehen, massgeblich geprägt. Vielleicht sogar mehr als das die erste Mondlandung tat, die sich einen Monat vor Woodstock ereignete.
Woodstock wurde unfreiwillig zum Gratis-Festival
Die New Yorker Veranstalter hatten ursprünglich rein finanzielle Interessen. Zwei Konzertveranstalter taten sich mit zwei Investoren zusammen, um mit einem Festival den Bau von Musikstudios zu finanzieren.
Nachdem sich die Location zig Mal änderte, weil sich die ländliche Bevölkerung erfolgreich gegen eine Invasion von Auswärtigen wehrte, fanden die vier erst einen Monat vor dem Anlass einen Milchbauern, der eine Ackerfläche von 2,4 Quadratkilometer vermietete.
Die Billettpreise waren auf 18 US-Dollar im Vorverkauf und 24 US-Dollar an der Abendkasse festgesetzt, was heute rund 120 respektive 160 Franken entspricht. Zum Gratisanlass wurde Woodstock erst, als Hunderttausende Kids ohne Tickets aufkreuzten, um ihre Idole zu sehen: Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Grateful Dead.
Carlos Santana, damals noch weitgehend unbekannt, trieb die Menge mit endlosen Gitarrenjams zur Ekstase, der Sänger der aufstrebenden britischen Rockband The Who plärrte die Jugendhymne «My Generation» ins Mikrofon.
Die Situation im Publikum hätte jeden Moment eskalieren können
Spätestens am Morgen des zweiten Festivaltags habe die Infrastruktur zu kollabieren begonnen, erzählte einer der Veranstalter, Joel Rosenman (77), der «Wochenzeitung» einst in einem Interview. Leute konnten das Gelände weder betreten noch verlassen, ein Gang zur Toilette dauerte mehrere Stunden, und die Verpflegung ging langsam aus.
Laut Rosenman lieferten die katastrophalen Zustände, die Menschenmassen, die verschiedensten Drogen und der strömende Regen jedes erdenkliche Szenario für ein Chaos oder massive Unruhen. «Es sprach alles dafür, dass die Situation im Publikum jeden Moment eskalieren würde.»
Dass es nicht dazu kam, grenzt an ein Wunder – und macht Woodstock schlussendlich aus. In einer Zeit, als die USA einen blutigen Krieg in Vietnam führten, und ein Jahr nach der Ermordung Robert F. Kennedys und Martin Luther Kings lebten junge Amerikaner aus dem ganzen Land drei Tage lang «Love, Peace and Happiness», Toleranz und Nächstenliebe vor.
Das Publikum übernahm instinktiv die soziale Kontrolle über das Festival, es brauchte niemand, der für Ruhe und Ordnung sorgte. Eine Kommune verhinderte wahrscheinlich Schlimmeres, indem sie eine Pampe aus Haferflocken schöpfte, die in den leeren Mägen der Besucher aufquoll.
Das Festival der Totgeschwiegenen
Woodstock schockierte Amerika. Plötzlich versammelten sich Hunderttausende Menschen, deren Lebensgefühl und Sichtweisen die ältere Generation belächelt und totgeschwiegen hatte.
Es war eine Zeit, in der allein schon Männer mit nacktem Oberkörper die konservative Öffentlichkeit gewaltig provozierten. Veranstalter Rosenman: «Wenn man in Woodstock auf der Bühne stand und über dieses schier endlose Feld junger Gleichgesinnter blickte, hatte man das Gefühl, die Welt vor sich versammelt zu haben. Unsere Welt, nicht die unserer Eltern.»
Die Botschaft war klar: Schaut her, uns gibts!
Als eine Utopie, die im Moment ihrer Realisierung schon wieder verloren war, beschreibt Jens Balzer (50) diesen Moment Zeitgeschichte in seinem jüngst erschienen Sachbuch «Das entfesselte Jahrzehnt – Sound und Geist der 70er».
Woodstock war ein letztes Aufbäumen der Hippie-Bewegung. Ihre Kultur hatte sich bereits davor ihren Weg vom Untergrund in den Mainstream gebahnt und war jetzt definitiv dort angekommen.
Der Summer of Love habe der Welt bewiesen, dass man nicht so denken, fühlen und leben müsse, wie die Eltern es vorgemacht haben, schreibt Balzer. Was man mit der neu gewonnenen Freiheit anfängt – diese Frage beschäftigte die Gesellschaft in den 70er-Jahren.
In Woodstock schlossen sich Aussenseiter zusammen, um sich der Welt zu beweisen, die sie ausgegrenzt hatte. Die Folge davon: Sie waren keine Aussenseiter mehr.
Als Coca-Cola im Jahr 1971 die Weltfriede-Botschaft der Hippies für einen Werbeclip adaptierte («I’d like to buy the world a Coke»), war eine auf immateriellen Besitz basierende Jugendkultur so breitentauglich, dass sich mit ihren Slogans uramerikanische Produkte verkaufen liessen.
Hedonisten vs. Rationalisten, Pazifismus vs. Patriotismus
Balzer vergleicht Woodstock in seinem Buch mit dem zweiten grossen Ereignis von 1969, der ersten bemannten Mondlandung. Die Gegensätze liegen auf der Hand: Die Apollo-11-Mission war minutiös geplant, Woodstock nicht. Am einen Ort liessen sich Hedonisten von ihren Emotionen überwältigen, am anderen vertrauten Rationalisten auf tausendfach geübte Abläufe.
Technikversessenheit versus Naturverbundenheit, Patriotismus gegen Pazifismus – die Liste würde sich lange fortsetzen lassen. Was beide Ereignisse laut Balzer gemeinsam haben: Nach ihnen folgte Ernüchterung.
Längst nicht alle Amerikaner hatten die Bemühungen der Nasa befürwortet, den Menschen auf den Mond zu bringen. Nach der Rückkehr der Astronauten mehrten sich die Stimmen, die den Nutzen der Unternehmung bezweifelten.
Grosse Medienhäuser kritisierten den Kontrast zwischen den Milliarden, die der Trip zum Mond kostete, und den anhaltenden Missständen auf der Erde. Es war vorläufig auch das letzte Mal, dass ein Erdbewohner einen fremden Himmelskörper betrat.
Vieles haben wir den Woodstock-Hippies zu verdanken
Die Auswirkungen der ersten Mondlandung auf das Bild, das die Menschheit von sich selbst und seiner Umgebung hat, sind so unbestritten wie diffus. Die Auswirkungen der 68er-Bewegung mit Woodstock als Meilenstein prägte die Art, wie wir über uns denken, hingegen eindeutig.
Feminismus und Umweltschutz sind nur zwei Bewegungen, die direkt aus dem Sommer der Liebe hervorgingen. Ihre Anliegen treiben die Gesellschaft im Jahr 2019 so stark um wie nie zuvor.
Dass es okay ist, als Mensch einen gewissen Individualismus anzustreben oder dass Neues nicht automatisch schlechter einzuordnen ist als Altbewährtes, verdanken wir nicht zuletzt einer halben Million Hippies, die 1969 ans Woodstock-Festival pilgerten. Auch wenn viele von ihnen nie dort ankamen.