Die Uhr zeigt Viertel nach fünf in der Früh. Es ist noch dunkel und knapp über 0 Grad an diesem Montagmorgen in einem Waldstück von Rethondes (F), rund 75 Kilometer nordöstlich von Paris. Plötzlich zeichnen sich durch Bäume und Nebel die hell erleuchteten Fenster des Speisewagens Nr. 2419 D der französischen Compagnie Internationale des Wagon-Lits ab.
Drinnen sitzen französische und britische Militärs mit einer deutschen Delegation – ein gutes Dutzend Männer. Müde und gezeichnet von zermürbenden Gesprächen unterschreiben sie exakt zu diesem Zeitpunkt den Waffenstillstand. Das bis dahin grösste und grässlichste Völkergemetzel nimmt am 11. November 1918, heute vor genau hundert Jahren, sein Ende.
Die Bilanz des Ersten Weltkriegs: 9,7 Millionen in Schlachten massakrierte Soldaten, viele Leichen vermodern in Schützengräben; zehn Millionen getötete Zivilisten, in Städten bombardiert, auf der Flucht erschossen oder verhungert; dazu kommen 21 Millionen körperlich versehrte Kämpfer auf allen Seiten, die seelischen Krüppel nicht eingerechnet.
Von 1914 bis 1918 kämpfen – ausgelöst durch das Attentat auf den kaiserlich-königlichen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 – Österreich-Ungarn, das Deutsche und das Osmanische Reich gemeinsam auf der einen Seite gegen Frankreich, Grossbritannien, Russland und später die USA. Zeitweise beteiligen sich bis zu 40 Staaten am bis dahin umfassendsten Krieg der Geschichte.
«Grauenhaft wach inmitten ihrer Trunkenheit»
«Von Anfang an glaubte ich nicht an den Sieg und wusste nur eines gewiss: dass selbst wenn er unter masslosen Opfern errungen werden könnte, er diese Opfer nicht rechtfertigte», schreibt der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) in seinem Erinnerungsbuch «Die Welt von gestern» (1940).
Aber immer sei er mit solchen Mahnungen unter all seinen Freunden allein geblieben. Und Zweig, der Verfasser der berühmten «Schachnovelle», schreibt weiter: «Das wirre Siegesgeheul vor dem ersten Schuss, die Beuteverteilung vor der ersten Schlacht liess mich oft zweifeln, ob ich selbst wahnsinnig sei unter all diesen Klugen oder vielmehr allein grauenhaft wach inmitten ihrer Trunkenheit.»
Es zeigte sich bald: Zweig träumte nicht, und seine Freunde sollten bald ausnüchtern und auch die Realität erblicken. 1918 präsentiert sich Europa in Trümmern, alle jammern, leiden an Cholera, Typhus oder Hunger. Zusätzlich wütet in diesen Tagen die tödliche Spanische Grippe, wahrscheinlich durch infizierte US-Soldaten nach Europa eingeschleppt. Für die Menschen gibt es in diesen Tagen nur eine Losung: Nie wieder Krieg!
Mitten in diesem Elend verbreitet sich von Portugal bis Russland, von Norwegen bis Italien das «14-Punkte-Programm» für den alten Kontinent, das US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924), ein begnadeter Redner, bereits im Januar 1918 vor dem Kongress in Washington umriss: Abrüstung, Rückgabe besetzter Gebiete, offene Friedensverträge, keine Geheimabmachung, Freihandel und vor allem ein allgemeiner Verband der Nationen – der Völkerbund, der Vorläufer der Uno. Nicht die USA stehen für Wilson im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft – das pure Gegenteil des heutigen Präsidenten der USA.
Wilsons Ziel: Versöhnung ohne Rache. Ihm schwebt ein gerechter Friede vor und eine Gemeinschaft der Völker, die zukünftige Kriege verhindern soll – ein Gedanke, wie man ihn bisher erst vom deutschen Denker Immanuel Kant (1724–1804) oder dem französischsprachigen Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) kannte. Entsprechend empfängt man den amerikanischen Präsidenten wie einen Messias, als er zu den Friedensverhandlungen nach Europa kommt.
Das Palais Wilson liegt am Quai Wilson 47 in Genf
«Am 13. Dezember 1918 steuert der mächtige Dampfer ‹George Washington› mit dem Präsidenten Woodrow Wilson an Bord der europäischen Küste zu», schreibt Stefan Zweig in seiner letzten «historischen Miniatur» des Sammelbands «Sternstunden der Menschheit». «Nie seit Anbeginn der Welt ist ein einzelnes Schiff, ist ein einzelner Mann von so vielen Millionen Menschen mit so viel Hoffnung und Vertrauen erwartet worden.»
Wasser, Luft, Erde, Feuer – Zweig greift rhetorisch nach allen irdischen Elementen: Wie Wilson im Hafen von Brest (F) einfährt, «braust» ihm die «lodernde Begeisterung eines ganzen Volkes» entgegen. Überall, wo der Zug durchfährt, winken Fahnen, «die Fahnen der Hoffnung». «Und wie er durch die Champs-Elysées einfährt in Paris, stürzen Kaskaden der Begeisterung von den lebendigen Wänden.»
Über der Pariser Prachtstrasse erstrahlt die Leuchtschrift «Vive Wilson», und in Italien brennen Kerzen unter dem Porträt des 28. US-Präsidenten. «In wenigen Wochen wird der Name Woodrow Wilsons eine religiöse, eine messianische Macht», schreibt Zweig. «Man benennt Strassen nach ihm und Gebäude und Kinder.» Das erste Völkerbunds-Gebäude in Genf heisst heute Palais Wilson und liegt am Quai Wilson 47.
«Eine Nacht noch Ruhe und Rast und dann gleich morgen beginnen, um der Welt den Frieden zu geben, den sie seit Tausenden Jahren erträumt, und damit die grösste Tat tun, die je ein Irdischer vollbracht hat», schreibt Zweig in seinem gut 20-seitigen Text. Wie bei einer Novelle strebt darin die Handlung einem Ziel zu. Und das kündigt sich bereits im Titel unheilvoll an: «Wilson versagt.»
Wo sieht Zweig das Versagen von Wilson? Der Amerikaner setzt letztlich seine Vision nicht durch – er ist zu zögerlich, zu kompromissbereit. Während er das Zukünftige schaffen will, die Einheit der Nationen, den ewigen Frieden, sinnt der französische Premierminister Georges Clemenceau (1841–1929) auf einen zeitlichen Frieden mit Deutschland, in dem Grenzziehungen und Kriegsentschädigungen im Vordergrund stehen.
Die Deutschen sollen zahlen und endgültig in die Knie gezwungen werden – da kennt Clemenceau kein Pardon. Das bringt den britischen Premierminister David Lloyd George (1863–1945) gegen ihn auf, denn der Waliser will die Germans als Handelspartner behalten und sie nicht bankrott sehen. Die Chance für Wilsons versöhnlichen Frieden:
Am 14. Februar 1919 legt er seine Idee vom Völkerbund in endgültiger Form vor und überzeugt damit seine Alliierten.
«Es ist sein grösster Tag und ist zugleich sein letzter glücklicher Tag», schreibt Zweig in «Wilson versagt». «Denn Wilson verdirbt sich seinen Sieg, indem er zu früh triumphierend das Schlachtfeld verlässt und am nächsten Tage, dem 15. Februar, nach Amerika zurückreist. (…) Statt die Stunde zu nützen, solange sie ihm günstig war, statt das heisse Eisen nach seinem Willen zu schmieden, solange es noch weich und gefügig glühte, hat Wilson die idealistische Disposition Europas erstarren lassen.»
Als Wilson einen Monat später nach Europa zurückkehrt, findet er eine völlig andere Situation vor: Der britische Premier nahm gleichzeitig mit Wilson einen Monat Urlaub, Clemenceau war durch ein Attentat arbeitsunfähig, und dieses Vakuum nutzten Marschälle und Generäle, um ihren Einfluss geltend zu machen. Vier Jahre lang hatten sie während des Ersten Weltkriegs das Sagen und wollten nun nicht sang- und klanglos untergehen. Sie wollten einen härteren Friedensvertrag.
Wilsons versöhnlicher Frieden hätte Hitler verhindern können
«Und so gibt – verhängnisvollerweise – Wilson allmählich nach, er lockert seine Starre.» Der US-Präsident ist gescheitert, auch wenn er 1919 noch den Friedensnobelpreis erhält. «Wilson weiss, dass er vielleicht tatsächlich den Frieden gerettet hat, den Frieden der Stunde, aber der dauernde Friede im Geist der Versöhnung, der einzig rettende, ist versäumt und vertan», schreibt Zweig. «Der Widersinn hat gesiegt über den Sinn, die Leidenschaft wider die Vernunft.»
Der Aussenminister der Weimarer Republik unterschreibt am 28. Juni 1919 unter Protest den Versailler Vertrag. Die darin vorgeschriebenen territorialen Absetzungen schwächen die Wirtschaftskraft der Deutschen erheblich: Sie verlieren 80 Prozent ihrer Eisenerzvorkommen, 40 Prozent ihrer Hochöfen und 15 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Dazu kommt der Verlust von 90 Prozent der Handelsflotte und des gesamten Auslandvermögens.
In Deutschland redet man vom «Versailler Diktat». Der Widerstand gegen diesen Vertrag, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler (1931–2014), ist «von einem nahezu lückenlosen Konsens im ganzen Land» getragen. Auch wenn die Parteien aus unterschiedlichen Gründen aufbegehren, alle wollen «die Fesseln von Versailles» abschütteln. Der erste Bundespräsident der BRD, der liberale Politiker Theodor Heuss (1884–1963), findet 1932 in seiner Schrift «Hitlers Weg» deutliche Worte: «Der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Bewegung ist (…) Versailles.»
Hätte Wilsons versöhnlicher Friedensvertrag mit Deutschland obsiegt, wäre Deutschland nicht derart gedemütigt gewesen, wirtschaftlich nicht so abgesunken, die Bevölkerung nicht dermassen verarmt. Hitler wäre nicht an die Macht gekommen, der Zweite Weltkrieg nicht ausgebrochen und Deutschland nicht Jahrzehnte geteilt gewesen.
Wie sehr der Versailler Vertrag Hitler, seit 1933 Reichskanzler, in die Hände spielt, zeigt sich in den ersten Jahren seiner Regierungszeit: Er beseitigt die letzten Zwänge der Friedensvereinbarung von 1919 und erntet damit grosses innenpolitisches Prestige. Aussenpolitisch zettelt er 1939 mit dem Überfall Polens den Zweiten Weltkrieg an. In der Folge sitzt er am 22. Juni 1940 nordöstlich von Paris im französischen Eisenbahnwagen Nr. 2419 D, in dem der Waffenstillstand des Ersten Weltkriegs unterschrieben wurde, und um 18.50 Uhr ist die Kapitulation besiegelt – dieses Mal die von Frankreich.