An einem regnerischen Sonntagmorgen im März 1957 machten Polizeibeamte im Stadtberner Schosshaldequartier einen grausigen Fund: Auf dem Dachboden eines Wohnhauses lag in einer Blutlache eine männliche Leiche. Es handelte sich um den leblosen Körper von René Dubois, dem Chef der schweizerischen Bundesanwaltschaft. Gemäss den Ermittlungen der Polizei hatte er sich am Vortag mit seiner Armeepistole eine Kugel in den Kopf geschossen. Der erste sozialdemokratische Bundesanwalt der Schweiz wurde gerade mal 48 Jahre alt.
Wusste Dubois zu viel über zu mächtige Personen?
Mit Dubois’ tragischem Tod am 23. März 1957 fand eine der spektakulärsten Spionageaffären der Schweiz im Kalten Krieg ein dramatisches Ende. Obwohl der Bundesrat unmittelbar danach eine Untersuchung in Auftrag gab, sind die Hintergründe dieser Verzweiflungstat im Dunkeln geblieben. Jahrzehnte später bringen Historiker, deren Recherchen bislang nur bruchstückhaft veröffentlicht worden sind, Licht in diese kaum bekannte Staatsaffäre. Das SonntagsBlick Magazin hat zusätzlich Aktenbestände im Schweizerischen Bundesarchiv einsehen können.
Es ist eine Geschichte, die es mit jedem Spionagethriller aufnehmen kann. Dubois deckte brisante Seilschaften und fragwürdige Geschäfte auf, die ihren Ursprung im Dritten Reich hatten. Der Neuenburger Jurist wurde als integere und als politisch unabhängige Persönlichkeit beschrieben. Wegen seiner hartnäckigen Ermittlungen, die er auf ausdrückliche Anweisung von Justizminister Markus Feldmann (BGB, heute SVP) an die Hand genommen hatte, brachte er mächtige Leute gegen sich auf. Alles spricht dafür, dass sie es waren, die ihn erfolgreich ausschalteten. Vollständig werden sich die Hintergründe dieser Affäre vermutlich nie aufklären lassen. Zahlreiche Indizien stützen aber die These, dass der junge Schweizer Bundesanwalt sich in einem tödlichen Netz von Spionen, Waffenschiebern und ehemaligen Naziagenten verfangen hatte.
Das Unheil begann für Dubois, als er die Aufklärung von verdächtigen Waffen- und Rüstungsgeschäften untersuchte. 1953, damals war er noch stellvertretender Bundesanwalt, leitete Dubois wegen des Vorwurfs der Industriespionage ein Ermittlungsverfahren gegen Gregori Messen-Jaschin ein. Dieser war Chef der Firma Sfindex in Sarnen.
Bundesanwalt Dubois war hinter einer Nazi-Tarnfirma her
Dubois nutzte das Ermittlungs- verfahren, um den Schleier über Messens dunkle Vergangenheit zu lüften. Er hegte den Verdacht, dass die Sfindex eine Tarnfirma des Dritten Reichs war und auch nach Kriegsende dubiose Geschäfte betrieb. Der Verdacht sollte sich erhärten: Ende 1953 lag Dubois umfangreiches und belastendes Material über Messen und seine geheimen wirtschaftlichen Aktivitäten in der Schweiz zugunsten der Nationalsozialisten vor.
Messen war seit dem Zweiten Weltkrieg eine der Schlüsselfiguren in den deutsch-schweizerischen Wirtschafts- und Geheimdienstbeziehungen. Der lettische Geschäftsmann mit russisch-ukrainischen Wurzeln stand als Wehrmachtsagent im Dienste von Adolf Hitlers mörderischer Kriegsmaschinerie.
Aus einem Bericht der schweizerischen Bundespolizei von November 1953 geht hervor, dass seine Firma Sfindex während des Krieges ein Stützpunkt des deutschen Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes war. Über diese Schweizer Gesellschaft besorgten sich die Nazis hochwertige Werkzeugmaschinen für ihre Rüstungsindustrie.
Der Wehrmachtsagent Messen stand auch im Dienste der Schweiz. Im Auftrag des eidgenössischen Kriegsernährungsamts wirkte er nämlich an der Einfuhr lebenswichtiger Bedarfsartikel mit. Auch Schweizer Rüstungsbetriebe profitierten von Messens Vermittlerdiensten: Unter Aufsicht des Eidgenössischen Militärdepartements half er mit bei der Beschaffung von Material für die Herstellung von Werkzeugmaschinen, die für den Export nach Deutschland bestimmt waren.
Freunde eines Doppelagenten setzten Dubois unter Druck
Nachdem Dubois das Ermittlungsverfahren gegen den zwielichtigen Millionär auf den Weg gebracht hatte, stellten sich dessen einflussreiche Schweizer Freunde schützend vor Messen. Dubois’ Gegner beschuldigten den Bundesanwalt des Amtsmissbrauchs und schwärzten ihn bei seinem Vorgesetzten, Bundesrat Feldmann, an, um die Einstellung des Verfahrens gegen den Nazi-Kollaborateur Messen zu erreichen. Dubois wies diese Anschuldigungen stets zurück und sprach von einem Komplott.
Zu den wichtigsten Fürsprechern Messens zählte der ehemalige FDP-Bundesrat Walther Stampfli. Während des Zweiten Weltkriegs war Stampfli als Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements Leiter der schweizerischen Kriegswirtschaft. Der einflussreiche Vertreter der Solothurner Maschinen- und Rüstungsindustrie hatte während der Kriegsjahre einen kurzen Draht zum Wehrmachtsagenten Messen.
Nach dem Krieg versuchte Stampfli, der als «Vater der AHV» gilt, den Kriegsgewinnler reinzuwaschen: Während des Krieges habe Messen der Schweiz, so Stampfli in einem Schreiben von 1955, «wertvolle Dienste geleistet», indem er ihn mit vertraulichen Informationen aus Berlin versorgt habe. Diese Nachrichten seien für die kriegswirtschaftliche Planung der Eidgenossenschaft von «besonderem Wert» gewesen. Ihm sei nichts bekannt, was ihn an Messens «Anständigkeit, Korrektheit und Sauberkeit» zweifeln liesse.
Auch oberste Armeeführung wollte Dubois stürzen
Der ehemalige Bundesrat schreckte vor Drohungen nicht zurück. Folgende Anekdote, die sich in Dubois’ Büro abgespielt haben soll, ist überliefert: Stampfli zu Dubois: «Ich befehle Ihnen, die Ermittlungen gegen Messen einzustellen!» Als Dubois erwiderte, dass er nur Befehle von seinem Vorgesetzten entgegennehme, soll Stampfli wutentbrannt mit den Worten «Das wird Sie teuer zu stehen kommen!» aus dem Büro gestürmt sein. Bei diesem Vorfall blieb es nicht. Stampfli nahm Dubois unter Dauerbeschuss und mischte sich immer wieder in dessen Arbeit ein.
Auch die oberste Armeeführung der Schweiz lief Sturm gegen Dubois. Als Sozialdemokrat wurde er als eine Bedrohung für die nationale Sicherheit eingeschätzt. Namentlich Charles Daniel, Oberstbrigadier im Generalstab und Chef des militärischen Nachrichtendienstes, arbeitete gezielt auf Dubois’ Sturz hin, flankiert vom Chef des Generalstabs, Louis de Montmollin. Die hochrangigen Offiziere brachten ihn beim Vorsteher des Militärdepartements, Bundesrat Paul Chaudet, in Misskredit und hintertrieben die Zusammenarbeit mit der Bundesanwaltschaft.
Die Recherchen des SonntagsBlick Magazins lassen den Schluss zu, dass hinter den Angriffen gegen Dubois eine geheimdienstliche Verschwörung stehen könnte. Zu den mutmasslichen Drahtziehern gehörte der Schweizer Geheimdienstmann Max Ulrich. Der Inspektor der Bundespolizei war ein Antikommunist. Ihm war der Sozialdemokrat immer schon suspekt.
Ulrich war, das lässt sich aus den Akten herauslesen, ein Doppelagent. Der kahlköpfige Bundespolizist war nämlich der wichtigste Verbindungsmann des deutschen Geheimdiensts, der Organisation Gehlen, in der Schweiz. Diese war die Vorläuferorganisation des deutschen Bundesnachrichtendienstes. Mit dessen Chef Reinhard Gehlen (Deckname «Dr. Gontard»), einem ehemaligen Generalmajor der deutschen Wehrmacht, traf sich Ulrich alias «Onkel Busch» mehrmals in der Schweiz. Ulrich versorgte auch den schweizerischen Militär-Nachrichtendienst mit geheimdienstlichen Informationen aus Deutschland
Kam Dubois der Aufrüstung Deutschlands in die Quere?
Auch zum französischen Nachrichtendienst verfügte Ulrich über hervorragende Kontakte, namentlich zum französischen Diplomaten André Mercier. Hinter dem Rücken von Dubois spielte Ulrich dem in Bern stationierten Geheimdienstmann Mercier zahlreiche geheime Berichte der Bundesanwaltschaft zu. Ulrich hatte einen guten Grund, Dubois zu hintergehen: Ulrich war ein enger Freund Messens. Und hier schliesst sich der Kreis: Ulrich steckte mit Messen, Mercier und Gehlen unter einer Decke. Ein Komplott gegen den obersten Staatsschützer der Schweiz! Sind die Hintergründe in geheimen Rüstungsgeschäften mit der Schweiz zur Wiederbewaffnung Deutschlands zu suchen? Entsprechende Hinweise in Archivakten der schweizerischen Bundespolizei stützen diese Vermutung.
Im Bundeshaus wurde diese Intrige jahrzehntelang totgeschwiegen. Zwar versuchte der damalige Zürcher Staatsanwalt und spätere Bundesanwalt Hans Walder, Licht in die Affäre Dubois zu bringen. Doch der von der Landesregierung 1958 vorgelegte Untersuchungsbericht sorgte mehr für Verschleierung als für Aufklärung. Denn er zeigte ein einseitiges und unvollständiges Bild der tragischen Ereignisse.
Dem Bericht zufolge blieb die Affäre im Wesentlichen auf Dubois und Ulrich sowie auf die Neben- figuren Messen und Mercier begrenzt. Heute wissen wir: Das war nur die halbe Wahrheit. Dass Dubois darin des Geheimnisverrats bezichtigt wurde, passte in dieses Bild: Er soll demnach geheime Informationen aus der Bundesanwaltschaft – konkret ging es um zwei Berichte über die Telefonabhörung der ägyptischen Botschaft in Bern und einige weitere Dokumente – dem französischen Geheimdienstmann Mercier ausgehändigt haben. Dieser Vorwurf wurde am 20. März 1957 publik. Drei Tage später nahm sich René Dubois das Leben. In der offiziellen Lesart wurde der Suizid als ein Schuldeingeständnis gedeutet. Demnach soll sich der Chef der Bundesanwaltschaft, geplagt von Schuldgefühlen, selbst gerichtet haben.
Die jahrelangen Attacken trieben Dubois in den Tod
Die Erklärung von wegen «Schuldeingeständnis» erscheint jedoch als wenig glaubhaft, denn Dubois’ angeblicher Geheimnisverrat war eine Bagatelle und strafrechtlich bedeutungslos. Dieser Nachrichtenaustausch überschritt das übliche Mass an Kooperation unter befreundeten Geheimdiensten in keiner Weise. Die Weitergabe von ein paar Abhörprotokollen ist deshalb ein wenig plausibles Motiv für Dubois’ Verzweiflungstat. Viel wahrscheinlicher ist, dass die jahrelangen Attacken seiner Gegner ihm so stark zugesetzt hatten, dass er keinen anderen Ausweg als den Tod sah.
Seiner Frau Lily zufolge war Dubois im März 1957 mit den Nerven völlig am Ende. Einen Tag vor seinem Tod vertraute Dubois einem Journalisten an, dass er erpresst werde. Am 23. März 1957, einem Samstagnachmittag, kam es in einem Berner Landgasthof zu einem Geheimtreffen zwischen Mercier und Bundesrat Feldmann. Der französische Spion redete auf Feldmann ein, um die bevorstehende Verhaftung von seinem Freund Ulrich zu verhindern. Mercier drohte mit Dubois’ Sturz, man verfüge über genügend Möglichkeiten und Beweise. Wenige Stunden später war Dubois tot.
Die Tragik des Falls Dubois ist eine doppelte: Zuerst verlor René Dubois sein Leben, dann seine Ehre. War der Versuch, ihn posthum als Landesverräter darzu- stellen, ein geschicktes Ablenkungsmanöver, um die Drahtzieher hinter der tödlichen Intrige zu verschleiern? Für Bundesrat Markus Feldmann stand ausser Zweifel, dass der Schweizer Geheimdienstchef Charles Daniel «einen grossen Teil der Schuld und Verantwortung» an Dubois’ Tod zu tragen hatte.