Seit Tagen munkelte man schon darüber, am 8. Mai war es offiziell: das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Tags zuvor hatte Nazi-Deutschland im französischen Reims kapituliert, nun erwachte ein ganzer Kontinent aus einem Albtraum – mit über 50 Millionen Opfern, davon sechs Millionen Juden.
Ein Aufatmen ging auch durch die Schweiz. Kirchenglocken läuteten, Läden blieben «wegen Friedens geschlossen», der Unterricht fiel aus – überhaupt mochte kaum jemand an Arbeit denken. In den Städten wälzten sich Menschenmassen durch die Strassen, ein Meer von Alliierten-Fähnchen tat sich auf. Die Heilsarmee spielte die Nationalhymne, Zeitungsjungen verkauften massenhaft «Extrablätter», Jünglinge betranken sich bis tief in die Nacht.
In Zürich trafen sich auf dem Helvetiaplatz Hunderte zu einer Kundgebung gegen Nazi-Sympathisanten. In Genf sang eine Gruppe vor dem französischen Konsulat die Marseillaise. Und die Nichte von Charles de Gaule, Geneviève de Gaulle, die kurz zuvor dorthin geflüchtet war, rief aus dem Fenster: «Vive la France!»
Gemischte Gefühle
So viel Pathos, obwohl die Schweiz vom Krieg mehr oder weniger verschont geblieben war: 84 Menschen kamen bei Bombardierungen ums Leben, zwei Militärpiloten bei einem Fliegereinsatz. Doch die Bevölkerung musste einiges entbehren: Das Militär hatte dem Land bei der Generalmobilmachung 600’000 Männer entzogen, die Nahrungsmittel waren rationiert, und alle lebten mit der Angst, dass Hitler die Schweiz angreift.
Auf einen Schlag rückte all das in den Hintergrund, und eine Zigarettenladen-Besitzerin sehnte am 8. Mai nichts mehr als den Feierabend herbei: «Dann gehe ich in den Keller und hole die Büchse Ananas, die ich bereits seit drei Jahren aufbewahre», sagte sie einem Journalisten der «Basler Nachrichten». Ein junger Mann beschloss, mit seiner Sonja anderntags aufs Standesamt zu gehen und zu heiraten. Und eine alte Dame, die schon drei Kriegsenden erlebt hatte, sagte: «Jetzt kann ich in Ruhe sterben.» Bis dahin habe sie immer das Gefühl gehabt, sie müsse dabei sein, um vielleicht noch helfen zu können. «Jetzt sollen die Jungen die Sache alleine machen.»
Es gab auch besorgte Stimmen, die Zukunft war für viele ungewiss, 1945 zählte das Land wegen der schlechten Arbeitsbedingungen 35 Streiks – doppelt so viele als während der Kriegsjahre. Und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) traute dem Frieden nicht. Die nächsten Jahre würden zeigen, ob das Gift des Judenhasses weiter wirke. «Der Antisemitismus wird andere Formen suchen», sagte SIG-Präsident Saly Braunschweig (1891–1946) in einer Ansprache. Die Ereignisse der Stunde wiesen in eine andere Richtung: In Zürich und im Tessin verwüsteten Unbekannte Wohnungen und öffentliche Lokale von Fascho-Sympathisanten.
Der Bundesrat wollte keine Siegesfeiern
Die offizielle Schweiz reagierte ganz anders als die breite Bevölkerung: reserviert. Das Bundeshaus blieb am 8. Mai dunkel. Zuvor hatte der Bundesrat an die Kantone geschrieben: Es sollten keine Schweizer Flaggen an öffentlichen Gebäuden hängen, Siegesfeiern seien nicht angebracht, man gehöre nicht zu den Siegern – als neutrales Land.
Sacha Zala (51), Geschichtsprofessor der Universität Bern, erklärt das so: «Der Bundesrat wollte nicht zugeben, dass die Schweiz ihre Freiheit letztlich nur dank dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland hatte behaupten können.» Damit hätte man sich selbst widersprochen. Dem Volk gegenüber behauptete man immer wieder, dass alleine die Neutralität die Schweiz gerettet habe.
Dazu passt die Radioansprache des Bundespräsidenten, die dank Zala und seinem Team über die Plattform Dodis.ch öffentlich zugänglich ist. Während auf der Strasse das Volk US-Fahnen schwenkte, sagte Eduard von Steiger (1881–1962): Die Schweiz habe «ihre seit Jahrhunderten bewährte und behauptete Neutralitätspolitik auch in diesem Kriege» verfolgt und sei «von den Schrecken des Krieges verschont geblieben». Die Siegermächte erwähnte er mit keinem Wort.
Schüler sammelten für Kriegsgeschädigte
«Überhaupt», sagt der Historiker, «für die Schweizer Regierung ging der Krieg nach dem 8. Mai weiter.» Die Armee blieb weiter mobilisiert, bis sich im Sommer eine Kapitulation des Deutschland-Verbündeten Japans abzeichnete. Zudem regierte der Bundesrat weiter, als ob nichts gewesen wäre – im Alleingang per Notrecht. «Ihm gefiel die alleinige Macht, er wollte sie nicht abgeben.» Erst die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» 1949 konnte ihn stoppen.
Diese Jahre rund um das Kriegsende prägten die Schweizer Aussenpolitik. «Weil die Behörden an der Erzählung der Neutralität festhielten, stand die Schweiz viele Jahrzehnte lang abseits», sagt Sacha Zala. Es wäre auch anders gegangen. Das neutrale Schweden trat der Uno 1946 bei, erst im Jahr zuvor war diese gegründet worden. Bei der Schweiz dauerte es bis 2002.
Für die Bevölkerung zählte in den Tagen am Kriegsende vor allem eines: endlich wieder ruhig schlafen. Viele waren froh, verschont geblieben zu sein, und wollten jetzt etwas zurückgeben. Pfadfinder und Schüler sammelten für die Kriegsgebeutelten im Ausland. Und sie schickten Briefe mit, wie jener der Primarschülerin Margrit Friedli, der in Gretlers Panoptikum abgelegt ist: «Liebes Holländermädchen, wir Schüler möchten euch auch einmal helfen. Wir sammeln Geld und dann schicken wir es euch. Ich hoffe, es geht jetzt besser. Jetzt müsst ihr keine Angst mehr haben in der Nacht, weil jetzt keine Flieger mehr kommen.»