Die Welt leidet: Umweltkatastrophen, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Stress. Da bleiben nur noch zwei Fragen: Wer zum Teufel hat uns dies eingebrockt? Und: Wie können wir die Suppe auslöffeln, ohne daran zu ersticken? In seiner Kolumne in der «NZZ am Sonntag» hat Beat Kappeler die erste Frage so beantwortet, dass man die zweite nicht mehr stellen muss. Sein Text zeigt auf, wie die Gewinner der Wirtschafsordnung den Dialog mit den Verlierern vermeiden. Zudem führt er uns auf Pisten, die bei der Suche nach Lösungen helfen.
Kappeler ist wie der Autor dieser Zeilen nach dem 2. Weltkrieg in der Schweiz geboren. Das ist so ziemlich das beste Los, das Weltenbürger je ziehen konnten. Schon eine Generation später fing es an zu hapern. Aus dieser privilegierten Perspektive ist es verlockend und auch nicht ganz falsch, die Zeit seit der Industrialisierung als Erfolgsstory zu sehen. Richtig ist wohl auch, dass es vor allem englischsprachige Ökonomen waren, die dieser Periode den Stempel aufgedrückt haben. Auch dass die Angelsachsen ihren Erfolg und Einfluss vor allem der Tatsache verdanken, dass sie «ohne falsche Scham das Eigen- statt das Allgemeininteresse als Basis» genommen haben, ist wohl nicht falsch.
Man übersieht, dass es dem Mittelstand schlechter geht
Hinter dieser Geschichte steckt aber eine unterschwellige Botschaft: «Alles paletti. Weiter so. Wir kennen das Erfolgsrezept, bleiben wir dabei.» Das überzeugt nur deshalb, weil der Zeitraffer die letzten paar Jahrzehnte ausblendet und die grosse Mehrheit der Schweizer (noch) in einer Oase des Wohlstands lebt. Doch wer über seinen Tellerrand hinausschaut, sieht, dass die allermeisten Menschen heute weit unter dem Niveau leben, das beim aktuellen technologischen Stand möglich wäre. In fast allen Industrieländern ist die Unterschicht abgehängt worden, und der Mittelstand lebt oft schlechter und arbeitet härter als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das hängt vor allem mit der chronisch gewordenen Arbeitslosigkeit zusammen. Immer mehr Menschen sind gezwungen, auch mies bezahlte Jobs anzunehmen.
In den Gedankenmodellen der angelsächsischen Ökonomen kommt Arbeitslosigkeit nicht vor. Der Grund dafür liegt darin, dass in diesem Modell alle Akteure – auch die Privathaushalte – die Arbeit als Kostenfaktor sehen, den es zu minimieren gilt. Die Arbeitnehmer maximieren ihren Nutzen, indem sie eine optimale Mischung von Freizeit und Konsum anstreben. Sie können das, weil sie – immer im Modell – ihren Konsumbedarf bis ans Lebensende vorhersehen.
Die logische Konsequenz aus diesen Modellannahmen ist, dass die Arbeitszeit mit steigender Produktivität sinken muss – sonst droht Arbeitslosigkeit. Der britische Top-Ökonom Lord Maynard Keynes spekulierte deshalb schon 1928: «Es mag bald ein Punkt erreicht sein, vielleicht viel eher, als wir uns alle bewusst sind, an dem unsere Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, dass wir es vorziehen, unsere weiteren Kräfte nichtwirtschaftlichen Zwecken zu widmen.» Deshalb werde es nötig sein, «die Arbeit, die dann noch zu tun ist, so weit wie möglich zu teilen». Konkret: «Mit einer 15-Stunden-Woche kann das Problem eine ganze Weile hinausgeschoben werden.»
Willkommen im Standortwettbewerb!
Das ist nicht passiert. Stattdessen hat an der von Keynes erwähnten Sättigungsgrenze die Arbeit gleichsam ihr Vorzeichen gewechselt. Sie ist vom Produktionsfaktor zum Produkt, vom Aufwand zum Ertrag geworden. Die Multis verkaufen ihre Jobs an den meistbietenden Standort. Die Löhne liegen oft unter dem Existenzminimum, der Staat übernimmt die Differenz. Wenn irgendwo eine neue Fabrik entsteht, freuen wir uns nicht über zusätzliche Autos oder Schuhe – davon gibt es eh genug –, sondern über die Jobs. Dieser Vorzeichenwechsel ist die Marktwirtschaft, wie sie (nicht nur) den Angelsachsen vorschwebte. Willkommen im Standortwettbewerb.
Haben also die angelsächsischen Ökonomen versagt? Nein, zumindest nicht die, die Kappeler in seinem Text erwähnt. Ihr Modell sagt einigermassen richtig voraus, wie der Markt für sich alleine genommen funktionieren würde und unter welchen Umständen er zum Gleichgewicht tendiert. Aber Märkte sind nie isoliert. Die Kunst der Wirtschaftspolitik besteht darin, die Märkte optimal in ihr soziales Umfeld einzupassen. Das war das Rezept, das uns nach dem 2. Weltkrieg rund drei Jahrzehnte lang Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle gebracht hat. Mit periodischen Verkürzungen der Arbeitszeit, mit dem Aufbau eines Rentensystems hat man in etwa die Bedingungen simuliert, die gemäss dem neoklassischen Modell zu einem Gleichgewicht führen.
Gefährlich wurde es erst, als einseitig begabte Ökonomen den mathematischen «Beweis» liefern konnten, dass ein «allgemeines Gleichgewicht» existiert – wenn auch natürlich nur unter den erwähnten unrealistischen Bedingungen. Daraus entwickelte sich die Wahnidee, dass man die Arbeitslosigkeit bekämpfen und das Wachstum beschleunigen kann, indem man den Spiess umdreht und die Realität dem Modell anpasst. Die entsprechende politische Agenda ist bekannt: Flexibilisierung, Deregulierung, freier Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr etc. Erst wenn knallharter Wettbewerb alle zur Arbeit zwingt, werden Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle wieder möglich – auch wenn es erst einmal wehtue.
Keynes hatte da so eine dumpfe Vorahnung: «Allerdings, so glaube ich, gibt es noch niemanden, der dem Zeitalter der Freizeit und der Fülle ohne Furcht entgegenblicken könnte. Denn wir sind zu lange darauf trainiert worden zu streben, statt zu geniessen.» Schade. Dabei hatten uns die Angelsachsen doch ein Modell hinterlassen, das zumindest andeutet, wie man mit Freizeit und Fülle umgehen könnte. Leider haben die Kappelers von heute ihre Vordenker von gestern nicht ganz begriffen.