Markus Somm über Napoleon und die Schweiz
Diktator der Befreiung

Die 17 Jahre, in denen bei uns seine Militärdiktatur herrschte, waren eine der schlimmsten Zeiten der Schweizer Geschichte. Und wohl auch der Anfang der heutigen Armee – und der modernen Schweiz.
Publiziert: 26.11.2023 um 08:52 Uhr
|
Aktualisiert: 26.11.2023 um 18:10 Uhr
1/5
Ridley Scotts Historiendrama «Napoleon» läuft seit Donnerstag in den Kinos. Napoleon Bonaparte wird von Joaquin Phoenix verkörpert, Joséphine de Beauharnais von Vanessa Kirby.
Foto: Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Markus Somm*

Die Berner hatten alles vorbereitet, einen glänzenden Empfang, wo die Aristokraten der Stadt ihn würdig begrüssen wollten, ein währschaftes Essen, das dem Franzosen sicher geschmeckt hätte, Musik, Soldaten, jubelndes Volk, kurz, tout Berne stand bereit. Napoleon kam – und fuhr weiter, ohne auch nur aus seinem Wagen zu steigen.

Er liess Bern links liegen. «Wie wenn ihm der Boden unter den Füssen brannte, durcheilte er die ihm verhasste Aristokratenstadt», schrieb ein Zeitgenosse. Erst in Fraubrunnen – weit ausserhalb der Stadt – liess er anhalten.

Einschüchterung nach Schweizer Art

Wir schreiben das Jahr 1797, und General Bonaparte, was er damals noch war, der beste Feldherr des revolutionären Frankreich, reiste durch die Schweiz. Über Genf, Lausanne und Murten ging es nach Basel, wo er unser Land verliess, um nach Rastatt weiterzufahren, wo einer der vielen, vergeblichen Friedenskongresse jener Zeit stattfand. Seit 1792 herrschte in Europa Krieg, und obschon die Schweiz bisher verschont geblieben war, schien es nur eine Frage der Zeit, bis der Krieg auch uns heimsuchte.

So war es nur klug gewesen, dass die Aristokraten, die das Alte Bern regierten, Napoleon einen angenehmen Aufenthalt bereiten wollten, um ihn günstig zu stimmen. Man kann ja nie wissen. Zumal dieser Mann gerade Italien erobert hatte. Ein Genie, ein Monster, ein Retter – je nach Standpunkt. Wenn ihm dann Bern in bester Erinnerung blieb, umso besser. Dissuasion nach Schweizer Art. In Lausanne, wo er nachts um 1 Uhr angekommen war, hatten ihn unter anderem drei junge Frauen empfangen, bekleidet in den Farben der Trikolore, was den General, einen berüchtigten Womanizer, hingerissen hatte. Seither galt er als Freund der Waadt.

Als die Berner verloren und kapitulierten

Ob in Bern diese Methode verfangen hätte, darf bezweifelt werden. Die Bernburger unterschätzten, wie unbeliebt sie in den Augen der revolutionären Franzosen waren, ihr Staat galt als Ausgeburt des Ancien Régime, also jener Herrschaft der Monarchen, die in Paris eben beseitigt worden war.

Wie unbeliebt, sollten sie bald erfahren. Unter dem Vorwand, die Rebellion der Waadt gegen Bern zu unterstützen, marschierte Frankreich im Januar 1798 ein – und unterwarf innert kürzester Zeit die Alte Eidgenossenschaft, die auch unterging, weil sich die Kantone nicht einmal einig waren, ob sie sich nun verteidigen sollten. Am Ende sahen sich die Berner auf sich gestellt, verloren und kapitulierten. Und mit ihnen kurz darauf die ganze Schweiz.

Von Graffenried und von Wattenwyl tanzten durch die Gasse

Jetzt kam es zu einem Besuch in Bern – wenn auch ohne Napoleon, der anderweitig beschäftigt war –, doch jetzt versprachen sich die Franzosen nicht bloss eine warme Suppe. Den Berner Staatsschatz, einer der grössten der damaligen Zeit, beschlagnahmten sie sofort, und selbst die Berner Bären führten sie ab.

Vorher hatten die Franzosen den Bären die Namen von bekannten Berner Aristokraten gegeben und waren mit ihnen im Triumph durch die Stadt gezogen. Von Graffenried und von Wattenwyl tanzten durch die Herrengasse. Insgesamt entwendeten sie drei Bären, ein ganz junger blieb in Bern. Er überlebte nicht. Ob aus Kummer oder weil er ohne Mutter verhungerte, ist offen.

Die Berner Bären landeten im Zoo von Paris. Sie kamen nie mehr zurück, selbst dann nicht, als Frankreich alle Kriege verloren hatte. Herrschen und demütigen. Es waren seltsame Befreier.

Er brach die Moderne mit Feuer und Schwert

Tatsächlich begann 1798 in der Schweiz eine Zeit der Fremdherrschaft bis 1815, faktisch in Form einer Militärdiktatur von Napoleons Gnaden. Wenn man heute hört, was alles die moderne Schweiz Napoleon verdanken soll, ist das zwar nicht ganz falsch, und doch gibt es nichts zu beschönigen: Es war eine Besetzung durch fremde Truppen, wie wir sie seit römischen Zeiten nicht mehr erfahren hatten. Sie dauerte 17 Jahre lang. Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, Dörfer zur Strafe abgebrannt, politische Gegner eingekerkert oder vertrieben. Tausende von jungen Schweizern starben auf Napoleons Feldzügen, ob in Spanien, Deutschland oder in Russland, wo dessen Niedergang besiegelt wurde. Hier deckte 1812 eine Schweizer Division den Rückzug der Franzosen an der Beresina. Das gelang, wenn auch zu einem hohen Preis: Von 12'000 Mann blieben 300 übrig.

Es war eine der schlimmsten Zeiten der Schweizer Geschichte. Gewiss, Napoleon wälzte das Land um, er hinterliess auch Gutes, indem er etwa die Herrschaft der alten Kantone über die Untertanengebiete aufhob und so neue Kantone entstanden wie der Aargau, der Thurgau oder die Waadt, ebenso führte er Rechtsgleichheit und manche Bürgerrechte ein. Aber war es das wert? Die Zeitgenossen sahen es wohl anders – wie die meisten Europäer, deren Länder von Napoleon genauso umgewälzt worden waren durch seine brutalen Kriege. Er brachte die Moderne, ohne Zweifel – aber mit Feuer und Schwert. Wenn man England betrachtet, das nicht von Napoleon erobert worden war, sondern ihn besiegte, wird deutlich: Demokratie, Rechtsstaat und Kapitalismus setzten sich hier ohne dessen Gewaltherrschaft durch.

Die Lehren aus der Fremdherrschaft

Wenn die 17 Jahre Fremdherrschaft in unserem Land etwas Gutes bewirkten, dann die Überzeugung: Nie wieder! Schon kurz nach Napoleons Ende trafen sich die schweizerischen Offiziere in Langenthal und forderten eine stärkere Armee. Zur gleichen Zeit schuf die Tagsatzung in Thun den ersten eidgenössischen Waffenplatz. Nie wieder Napoleon.

Der junge Bär wurde übrigens ausgestopft. Heute steht er in einer Vitrine im Bernischen Historischen Museum. Das kleine, ausgemergelte Bärchen, das ein Schwert und einen Schild hält, gilt als Liebling des Publikums. Der letzte Bär des Alten Bern.

* Markus Somm ist Historiker und Chefredaktor des «Nebelspalters»  

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?