Kühlschrank, Telefon, Lift. Das 19. Jahrhundert war geprägt von grossen Erfindungen, die uns das Leben noch heute erleichtern. Dank der Industrialisierung entstand eine noch nie da gewesene Fülle an Produkten, die auch für die breite Masse käuflich waren. Die erste Weltausstellung 1851 in London präsentierte Neuheiten aus aller Welt, 100'000 Exponate von 14'000 Ausstellern. Nur schon der Kristallpalast im Hyde Park, in dem die Ausstellung stattfand, war für diese Zeit atemberaubend.
Der «Crystal Palace» gilt heute als erster moderner Bau – er wurde mit vorproduzierten Gusseisenelementen und viel Glas erbaut und konnte nach Bedarf auf- und wieder abgebaut werden. Das wie ein riesiges Gewächshaus anmutende Gebäude besuchten im Laufe eines halben Jahres sechs Millionen Menschen, die die neuesten Produkte bewunderten. Deren Technik war fortschrittlich – ästhetisch liessen sie aber zu wünschen übrig.
Das Berufsfeld des Designers wurde geboren
Kulturhistoriker und Architekten bemängelten das Äussere der Objekte und forderten, dass sich jemand deren Gestaltung annahm. Das führte zu einem grossen Umdenken in Industrie, Kunst und Architektur.
Fortan setzten sich besonders die Briten dafür ein, Erfindungen auch fürs Auge ansprechend zu gestalten. Ein neuer Beruf entstand: der des Designers. Erste Kunstgewerbeschulen wurden gegründet. Eine Entwicklung kam ins Rollen, die 50 Jahre andauern sollte und einen grossen Umschwung mit sich brachte. «Die Frage nach Farbe, Funktion und Form ist wohl fast so alt wie die Menschheit selbst. Doch wie wichtig die Gestaltung von Produkten ist, brachte erst die Weltausstellung von London ins Bewusstsein», sagt Regula Moser. Sie ist Kuratorin des Schweizerischen Nationalmuseums und Projektleiterin der Ausstellung «Auf der Suche nach dem Stil», die seit Freitag im Landesmuseum Zürich zu sehen ist.
Die Ausstellung nimmt die Museumsbesucher mit auf eine Zeitreise in die Jahre zwischen 1850 und 1900 und zeigt, wie Vertreter von Industrie, Kunst und Architektur sich das erste Mal mit dem Design von Gegenständen befassten. Diese neue Auseinandersetzung war ein grosses Unterfangen. Doch sie eröffnete Künstlern und Intellektuellen neue Denkweisen. Diese begriffen, dass man Stile der Vergangenheit, wie etwa der Antike, im jeweiligen Bereich begreifen und erfassen muss, um neue Entwürfe zu kreieren. Und legten Sammlungen von alten Werken und Mustern an.
Die Städte bekamen nach 1850 ihr heutiges Gesicht
Ein bekannter Sammler war der britische Architekt und Designer Owen Jones (1809–1874). Er trug Ornamente aus allen Epochen und aller Welt zusammen und systematisierte sie in seinem Buch «The Grammar of Ornament» nach Farben, Formen und Konstellationen – so wollte er die Prinzipien der Gestaltung einfangen. Auch an den Kunstgewerbeschulen entstanden Sammlungen von Stoffen, Gemälden, Mustern. Inspiriert von antiken, mittelalterlichen Werken lernten und verbesserten Kunstschüler ihr Handwerk.
So kam ein kreativer Umgang mit Mustern aus der Vergangenheit auf. Was heute normal ist – nämlich dass alte Designs immer wieder als Inspiration für neue dienen –, musste erst erlernt werden. Doch nicht bloss Kunstschüler erweiterten ihre Horizonte. Auch in anderen Bereichen gab es Veränderungen. Städte wie Paris, London oder Wien bekamen in der Zeit ihr Gesicht, wie wir es heute kennen. Architekten liessen sich inspirieren von mittelalterlichen Bauten, antiken Werken oder Epochen wie der Gotik. Neue Materialien wie Stahl, Beton und Glas prägten die Bauweise.
In der Kunst lösten sich die Maler von alten Fesseln. Vor 1850 waren etwa Gemälde strikt nach Gattungen unterteilt: Porträt oder Landschaft. Nach 1850 wurden die Maler kreativer. Neu konnte ein Hintergrund aus Blumen den eigentlichen Hintergrund ersetzen. Auch die Maler liessen sich von älterer oder ausländischer Kunst inspirieren: «Sie gingen ganz unverfroren mit den Mustern aus der Vergangenheit um, die Stilvielfalt war gross, alles wurde durchmischt», erklärt Regula Moser.
St. Galler Stickerei war spitze
Und die Schweiz? Besonders Textilien wie die St. Galler Stickereien waren nach 1850 gefragt – und wurden an der ersten Weltausstellung in London präsentiert. Schweizer Maler probierten Neues aus, liessen sich im Ausland inspirieren. In La Chaux-de-Fonds wurde 1873 die erste Kunstgewerbeschule nach den Vorbildern aus London eröffnet.
Und auch unsere Stadtbilder sind geprägt von der damaligen Architektur. Bauliche Zeugen aus jener Zeit sind etwa der Zürcher Hauptbahnhof, das Bundeshaus, das Winterthurer Stadthaus oder das Hôtel National in Montreux VD.
Ausstellung «Auf der Suche nach dem Stil»: 23. März bis 15. Juli, Landesmuseum Zürich