Auslöser der Fichenaffäre war die Publikation des Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) am 22. November 1989. Die Kommission hatte den Auftrag, Licht in die Hintergründe des Telefongesprächs zwischen der damaligen Justizministerin Elisabeth Kopp und ihrem Mann zu bringen. Kopp hatte ihren Ehemann wegen Ermittlungen in einem Fall von Geldwäscherei gewarnt und ihm geraten, aus dem Verwaltungsrat einer verdächtigten Firma auszutreten.
Empörung über Ausmass der Fichenaffäre war enorm
«Hätte sie damit gewartet, bis sie am Abend zu Hause gewesen wäre - wir wüssten bis heute nichts von den Fichen», sagte die Grundrechtsaktivistin Catherine Weber kürzlich in einem Interview der «Wochenzeitung". Weber war als Sekretärin des Komitees «Schluss mit dem Schnüffelstaat» an der Aufarbeitung der Fichenaffäre beteiligt. Die Volksinitiative «S.o.S - Schweiz ohne Schnüffelpolizei», welche die Abschaffung der politischen Polizei zum Ziel hatte, wurde fast zehn Jahre später in der Volksabstimmung vom 7. Juni 1998 von drei Vierteln der Stimmenden überaus deutlich verworfen.
Die PUK hatte damals neben dem ominösen Telefongespräch, das letztendlich zum Rücktritt der ersten Bundesrätin geführt hatte, auch den Auftrag, die Amtsführung ihres Departementes im Allgemeinen sowie jene der Bundesanwaltschaft und der dieser administrativ zugeteilten Bundespolizei zu untersuchen.
Weber schildert die Entdeckung der Fichen anlässlich einer Sitzung der PUK in den Räumen der Bundespolizei wie folgt: «Aus einer Laune heraus haben einige Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Pause die Schränke angeschaut -und eine riesige, alphabetisch geordnete Karteikartensammlung entdeckt», sagte sie der «Wochenzeitung".
Über 900'000 Menschen waren überwacht worden
Im PUK-Bericht wurde dann das Ausmass der Fichenaffäre deutlich: Über 900'000 Menschen waren fichiert worden. Die Empörung war gross: So demonstrierten am 3. März 1990 in Bern rund 30'000 Menschen gegen den «Schnüffelstaat".
Ab 1990 durfte jede Bürgerin und jeder Bürger Einsicht in die Fichen und Dossiers nehmen. Rund 300'000 Menschen machten von diesem Recht Gebrauch. Auch 5560 Dossiers wurden eingesehen. In den Fichen fanden die Betroffenen beispielsweise detaillierte Angaben über ihre Reisen in Oststaaten oder Kontakte zu Menschen hinter dem damaligen «Eisernen Vorhang», die minutiös, teilweise auch sehr fehlerhaft, auf Karteikarten festgehalten worden waren.
Auch Kurioses fand sich
Ein Geschäftsmann handelte sich einen Ficheneintrag ein, weil er einer Russin ein Enthaarungsgerät verkauft hatte. Aufgrund seiner Klage hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass das Recht des Schweizers auf Respektierung des Privatlebens verletzt worden war.
Die Fichenaffäre fiel mit dem zu Ende gehenden Kalten Krieg zusammen. «Damals haben die staatlichen Sicherheitsorgane grosse personelle Mittel zur Informationsbeschaffung eingesetzt», sagt heute rückblickend der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB), Adrian Lobsiger, der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Nach einer vorübergehenden Entspannung habe im Westen nach den Anschlägen auf die Twin-Towers in New York eine bis heute vorangetriebene Aufrüstung der sicherheitsbehördlichen Informationsbeschaffung eingesetzt.
Mit der Digitalisierung hat sich auch Informationsbeschaffung geändert
Mit der Digitalisierung habe sich die Menge und Qualität der Schrift-, Ton- und Bilddaten und die Rechenleistung für Analysen und Abgleiche exponentiell erhöht. «Dazu kommen biometrische und genetische Daten, die über das Internet verbreitet werden, sowie die Flut von Metadaten, wie beispielsweise Positionsdaten, die namentlich beim Gebrauch von Smartphones anfallen und entsprechend Spuren hinterlassen», sagt Lobsiger.
«Die Digitalisierung ist ein globales Phänomen.» Deshalb stünden den Sicherheitsbehörden der westlichen Demokratien die gleichen technischen Mittel zur Überwachung der Bevölkerung zur Verfügung wie den Behörden von autoritären Regierungssystemen.
Während Sicherheitsbehörden autoritärer Staaten alle technischen Mittel einsetzen würden, die der digitale Fortschritt möglich mache, hätten die Rechtsstaaten des Westens ihren Sicherheitsbehörden bei der Nutzung digitaler Technologien verfassungsrechtliche und gesetzliche Schranken gesetzt.
Mit dem Datenschutzgesetz und Datenschutzbestimmungen in einer Vielzahl von Spezialgesetzen setze die schweizerische Rechtsordnung ihren Polizeiorganen und Nachrichtendiensten einen gerichtlich durchsetzbaren Rahmen. Seit Anfang 2019 müsse auch das Schengen-Datenschutzgesetz beachtet werden.
Der Bund betreibe heute eine Vielzahl von Systemen mit sensiblen Personendaten, die in einem referendumsfähigen Gesetz verankert sein müssten. «Die allein nur von den Sicherheitsorganen des Bundes wie dem Bundesamt für Polizei, dem Grenzwachtkorps oder dem Nachrichtendienst betriebenen Systeme stützen sich auf eine so hohe Zahl von spezialgesetzlichen Bestimmungen, dass eine Übersicht sogar für spezialisierte Juristen kaum mehr möglich ist», sagt Lobsiger.
(SDA)