BLICK: Toni Berthel, man hat das Gefühl, die Leute sind süchtig nach Corona-Virus-Nachrichten. Kann man süchtig sein nach Bad News?
Toni Berthel: Solche Bad News lösen etwas in uns aus. Man könnte sagen, es gibt eine Form von Angstlust. Denn es ist etwas Neues, das einerseits Angst macht und nicht zu uns gehört, anderseits auch fasziniert, aber gleichzeitig versuchen wir, es wegzudrängen. Das ist der grundsätzliche Mechanismus, wie wir mit Phänomenen umgehen, die uns ängstigen. So kann auch bei neuen Medien eine Abhängigkeit entstehen.
Kann alles abhängig machen? Es gibt heute ja Gamesucht, Sexsüchtige, Sportsüchtige und Workaholics – da sagt man einfach nicht arbeitssüchtig.
Das Problem ist, dass Sucht auch immer ein Zeitgeistphänomen ist. Was heute Sucht ist, das war im Mittelalter eine Todsünde.
Welche zum Beispiel?
Völlerei wäre heute die Esssucht, Gier ist heute Kaufsucht oder Wollust die Sexsucht. Was als Sucht definiert wird, ist oft moralisch aufgeladen.
Wie entsteht medizinisch gesehen eine Sucht?
Diese Aktivitäten und Substanzen aktivieren das Belohnungssystem. Irgendwann wird das auf zellulärer Ebene festgeschrieben. Eine Substanz oder ein Verhalten wird also fix mit positiven Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Deshalb versuchen wir, das Erlebnis zu wiederholen. Und dann gibt es Schlüsselreize, welche das Verlangen nach dem Erlebnis auslösen. Dann müssen wir die Substanz wieder konsumieren und kommen in den Teufelskreis.
Was ist so ein Schlüsselreiz?
Schlüsselreize entstehen sehr individuell. Ich habe eine Bekannte, die rauchte nur noch in der Küche unter dem Dampfabzug. Und nach einer gewissen Zeit, wenn sie am Kochen war und den Dampfabzug angestellt hat, wollte sie rauchen. Das Geräusch des Dampfabzugs wurde zum Schlüsselreiz.
Eltern haben oft Angst, dass ihr Sohn gamesüchtig ist. Wann redet der Fachmann von Sucht und nicht mehr von Zeitvertreib?
Es gibt sechs Kriterien. Das erste ist, dass man immer mehr Zeit aufwendet. Das zweite: Man muss immer mehr konsumieren, um die gleiche Wirkung zu haben. Denn, Nummer drei, die Toleranz steigt, der Körper passt sich daran an. Viertens kommt es zu Entzugserscheinungen, das heisst: Wenn ich auf die Substanz oder das Verhalten verzichten muss, erlebe ich unangenehme Gefühle. Nummer fünf: Ich konsumiere weiter, obwohl ich im sozialen Umfeld Probleme bekomme. Und sechstens: Süchtige verspüren ein unbändiges Verlangen nach der Substanz. Es braucht von diesen sechs zwei bis drei der Phänomene, die mindestens ein halbes Jahr oder ein Jahr andauern, damit man von der Sucht sprechen kann. Deshalb kann man nicht sagen: Ich bin schokoladesüchtig, ich muss jeden Tag Schokolade essen. Das ist eine Gewohnheit.
Wenn ein Junge also viel am Computer spielt und trotzdem noch in den Eishockeyklub geht, dann ist er noch nicht süchtig?
Als das Phänomen des Gamings aufgetaucht ist, sagte man: Wenn jemand mehr als 30 Stunden pro Woche am Computer sitzt, dann ist er süchtig. Wenn ich nur 30 Stunden am Computer gesessen wäre, hätte mein Chef gesagt, ich sei faul. Wenn ein Kind viel am Computer ist, aber gleichzeitig seine Kollegen hat, Musik macht, in den Fussballklub geht, dann ist das nicht schlimm. Schlimm ist es dann, wenn man die gesamte Zeit für das braucht. Wenn man um fünf am Nachmittag nach Hause kommt und bis am Morgen um fünf spielt, dann in der Schule müde ist und die Leistung nicht mehr erbringen kann. Es gibt heute Spiele, bei denen man sehr rasch Erfolge einfährt, also einen Kick bekommt. Da ist die Gefahr grösser, dass man versucht, das wieder zu bekommen.
Man kennt die Entzugserscheinungen von Alkoholsüchtigen oder Drogensüchtigen: Da fängt man zum Beispiel an zu zittern. Ist das bei jemandem, der nicht mehr kaufen oder Porno schauen darf, auch so?
Wenn keine körperliche Abhängigkeit besteht, dann werden solche Patienten nervös, können nicht mehr schlafen, sind unruhig, schwitzen. Viele wissen nicht mehr richtig, wie sie mit dem Alltag umgehen sollen. Ängste können entstehen, sie können depressiv werden.
Sie sind als Psychiater schon seit Jahrzehnten im Drogenbereich tätig. Sie haben erlebt, wie die Schweizer Bevölkerung 2008 eine Teilrevision des Betäubungsmittelgesetzes gutgeheissen hat. Zehn Jahre später hat Ihre Kommission für Suchtfragen dieses Gesetz nochmals angeschaut und gesagt: Es muss völlig geändert werden. Warum?
Im Betäubungsmittelgesetz steht, das oberste Ziel sei die Abstinenz. Dieses Ziel konnte nicht erreicht werden. Psychoaktive Substanzen werden seit Jahrtausenden konsumiert, und nur wenige Menschen haben Probleme mit dem Konsum. Deshalb kann man auch nicht die Abstinenz ins Zentrum stellen. Es sollte nicht um ein Verbot der Substanzen gehen, sondern um Regulierung und Schadenminderung. Das verlangt, dass der Legalstatus geändert wird. Die Substanzen an sich machen nicht einfach süchtig oder krank. Die Substanzen konsumieren die Menschen, weil sie ihnen etwas bringen.
Eigentlich sagen Sie, das Gesetz geht an der Realität vorbei, denn die Realität ist Konsum. Man könnte auch sagen: Sie haben kapituliert.
Nein, das ist keine Kapitulation. Die Abstinenzorientierung ist ein falscher Ansatz. Es geht nicht darum, dass das abstinente Leben schlussendlich das gesuchte Leben sein muss. Ein lebenswertes Leben verlangt auch, dass wir Dinge tun, die nicht primär vernünftig sind, wie lachen oder tanzen. Das Berauscht-Sein, die Suche nach anderen Erfahrungsmöglichkeiten, gehört zu uns Menschen. Wir können Gesetze nicht an diesem Bedürfnis vorbei machen. Wir müssen aber schauen, dass so konsumiert werden kann, dass möglichst wenig Schaden entsteht, dass eine Qualitätssicherung gegeben ist, dass Kinder vor Gefahren geschützt werden, dass man lernen kann, mit Substanzen umzugehen. Die Frage ist nicht: Was können wir tun, damit nicht konsumiert wird? Sondern: Was können wir tun, damit jeder Mensch von den positiven Wirkungen dieser Substanzen profitieren kann?
Bei welchen anderen Gefahren haben wir den Umgang denn gelernt?
1932 sind in der Schweiz 271 Menschen ertrunken. Man hat daraufhin nicht das Schwimmen im See verboten, sondern man hat die Lebensrettungsgesellschaft gegründet und den Leuten beigebracht, zu schwimmen. 2018 sind in der Schweiz 41 Menschen ertrunken.
Weshalb braucht es Regulierung?
Mit Regulierungsmodellen kann man sicherstellen, dass Substanzen sauber auf den Markt kommen. In Deutschland hat man seit dem Mittelalter ein Reinheitsgebot für das Bier. Auch beim Wein steht drauf, wer ihn produziert hat, wie viel Alkohol drin ist und so weiter. Wenn Sie hingegen LSD bestellen, bekommen Sie ein Säckli, das nicht angeschrieben ist.
Ein Gegenbeispiel ist die Opioidkrise in den USA. Da wurden von Ärzten völlig überdimensionierte Schmerzmittel verschrieben. Viele Leute wurden süchtig und starben. Das spricht doch gegen Ihre These?
Nein, überhaupt nicht. In den USA wurde das kommerzialisiert. Ich bin absolut gegen eine Kommerzialisierung von psychoaktiven Substanzen. Die Ärzte haben sehr viel Geld bekommen, wenn sie die Opioide abgaben. Auch Menschen mit leichten Schmerzen hat man daran gewöhnt. Viele haben ihre seelischen Schmerzen mit diesen Substanzen behandelt. Dann hat man gesagt, jetzt dürfen wir das denen nicht mehr geben, und über Nacht hat man den Menschen die Substanz weggenommen. Sie sind auf den Entzug gekommen und dann auf die Gasse gegangen und haben Heroin bekommen. Da ist eine Verschiebung passiert in die Illegalität. Wir haben in der Schweiz auch Fälle, wo Leute von Schmerzmitteln abhängig werden. Aber wir versuchen, sie in Schmerzkliniken zu behandeln und wieder rauszuholen. Die USA haben ein unzureichendes Suchtbehandlungssystem.
Wer hat ein Interesse, dass nicht alle Rauschsubstanzen gleich eingeteilt werden?
Mit dieser Einteilung sind oft andere Bewertungen verbunden, zum Beispiel politische. Beispielsweise wurde behauptet, Cannabis werde von den Schwarzen konsumiert. In der Ära Nixon in den 70ern sagte man, über die Drogen würden die Menschen zu Tieren. Damit meinte man eigentlich die Schwarzen. Über die Angst vor Drogen konnte und kann man ganze Bevölkerungsgruppen diskriminieren. Oder wirtschaftliche Interessen: 1912 nahmen die USA in einer internationalen Offensive Morphine in das Betäubungsmittelgesetz auf. In der Schweiz aber waren sie erst ab 1924 verboten, weil man diese Substanzen in der Schweiz produziert hat. Das sind geschichtliche Prozesse, bei denen immer auch irrationale Elemente drinstecken. Wenn man rational schaut, gibt es keinen Grund, Cannabis anders zu behandeln als Alkohol. Würde Alkohol heute neu auf den Markt kommen, würde man es verbieten. Alkohol ist ein Nervengift, es zerstört das Gehirn, die Nerven, gibt eine Leberverfettung, Leberzirrhose. Und trotzdem ist es ein Kulturgut, das über Tausende von Jahren entstanden ist, und man hat gelernt, damit umzugehen.
Weshalb ist ein Verbot von Substanzen denn ein Problem?
Es führt zu Kollateralschäden. Wir haben grosse kriminelle Organisationen, die sich über diese Substanzen finanzieren. Letztes Jahr sind in Mexiko 25'000 Menschen getötet worden – alle im Zusammenhang mit Drogenkriminalität. In der Schweiz gab es während der Heroinepidemie in den 90er-Jahren ebenfalls eine grosse Kriminalität: Damals hat ein Gramm 800 Franken gekostet. Wenn man vier Gramm konsumierte, hat man 3000 Franken gebraucht. Das konnte man nicht einfach erbetteln, sondern musste es mit grossen kriminellen Handlungen beschaffen. Auch die gesundheitlichen Folgen des Verbots sieht man noch heute: Es gab keine sauberen Substanzen, man hat sich mit Hepatitis C oder B und HIV angesteckt, und viele starben an Überdosierungen. Saubere Substanzen als solches aber führen nicht zum Tod und haben wenig negative Auswirkungen auf den Körper.
Aber von Cannabis, was ja als harmlose Droge gilt, hört man, dass Schizophrenie entstehe, psychische Attacken …
Es ist unbestritten, dass solche Substanzen auch negative Wirkungen haben. Man muss unterscheiden zwischen Psychosen und Schizophrenie: Psychotisch ist, wer den Bezug zur Realität verliert. Das ist ein kurzfristiger Zustand und hört wieder auf. Die Schizophrenie wird ausgelöst, wenn Menschen eine vulnerable Grundpersönlichkeit besitzen. Und das wiederum hat bei der Mehrzahl auch eine genetische Ursache.
Muss man also zuerst einen Gentest machten, bevor man den ersten Joint raucht?
Nein, ich will sagen: Lebenskompetenz bedeutet Risikokompetenz. Ein Leben ohne Risiken ist nicht möglich. Wir müssen lernen, mit Risiken umzugehen. Erwachsene Menschen brauchen keine Lebensführungsbesserwisser. Weder Sie noch ich brauchen einen Psychologen, Arzt oder Sozialarbeiter, der sagt, was für uns gut ist. Wenn wir wissen, wie Substanzen wirken, wie deren Qualität ist und welche Dosis welche Wirkung hat, kann der erwachsene Mensch selber entscheiden, ob und was er konsumieren möchte.
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