BLICK-Kolumnist Claude Cueni über die Aktualität von Tagebüchern
Selfies mit Tinte

Der Selfie-Boom hat einen Vorläufer, der weit in die Jahrhunderte zurückgeht: das Tagebuch. Mit dem Internet lernte es sprechen, und seither führen sich viele Selbstporträtisten auf, als seien sie Personen der Zeitgeschichte. Die neue Kolumne «Geschichte» von Claude Cueni.
Publiziert: 04.05.2018 um 19:09 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 15:10 Uhr
Das Tagebuch ist der Vorläufer des Selfie-Boom.
Foto: plainpicture/BUILT
Claude Cueni

Seine Frau jagte ihn «mit einem rotglühenden Schürhaken quer durch das Schlafzimmer», weil er wieder einmal der Magd «die Hand in die Ritze» gesteckt hatte. So notierte es der englische Admiralitätssekretär Samuel Pepys 1668 in sein Tagebuch. Auf 3100 Seiten berichtet er schonungslos, wie ihn Blasensteine, Fleischeslust, Besäufnisse und Geldsorgen plagen und ihn der Besuch beim König erfreut. Seine Tagebücher gehören heute zur Weltliteratur.

Autobiografische Aufzeichnungen in chronologischer Form, also das Tagebuch, wurden in Europa erst in der Renaissance populär. Wer schreiben und lesen konnte, löste sich aus der Masse der Analphabeten und entwickelte ein Ich-Bewusstsein. Während die ersten Tagebücher eher Beobachtungen und Zeitgeschehen festhielten, wurden die Eintragungen ab dem 17. Jahrhundert intimer und selbstreflektierend: Geschriebene «Selfies» für den Eigengebrauch.

Pflichtlektüre Anne Frank

Das Tagebuch entwickelte neue Genres wie zum Beispiel das Traum-, Reise- oder Kriegstagebuch. Die wohl berührendsten Aufzeichnungen stammen von der Jüdin Anne Frank. Das Mädchen versteckte sich während des Zweiten Weltkriegs zwei Jahre lang vor den Nazis, um der Deportation und Ermordung zu entgehen. Eine Pflichtlektüre, nicht nur für jene, die den Holocaust verspotten oder gar leugnen, sondern auch für jene, die bei jeder Gelegenheit die Nazikeule schwingen.

Mozart hat «gar nichts erlebt»

Mit dem Internet lernten die Tagebücher sprechen, sie wurden illustriert, die Bilder lernten laufen und wurden zum fotografischen Selbstporträt, zum täglichen Selfie für die Öffentlichkeit. Als sei man eine Person der Zeitgeschichte. Während einige vor allem sich und ihr Essen posten, was im Falle einer Lebensmittelvergiftung bei der anschliessenden Obduktion durchaus hilfreich sein kann, steht bei anderen das Wichtigste im Fokus: ich. Die Konkurrenz ist gross, denn jeder Mensch verfügt über ein Ich. So findet die Abgrenzung durch Individualisierung und Exhibitionismus statt.

Vielleicht könnte uns eine Selfie-Pause Gelegenheit geben, über Mozarts Tagebucheintrag vom 17. Juli 1770 nachzudenken: «Gar nichts erlebt, auch schön.»

Claude Cueni (62) ist ­Schriftsteller und lebt in Basel. Kürzlich ist sein neuer Roman «Der Mann, der Glück brachte» erschienen. Cueni schreibt alle zwei Wochen im BLICK. 

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