In grauer Vorzeit galt ein hohes Alter als Belohnung der Götter, und so genossen alte Menschen hohes Ansehen. Im Alten Testament erreicht Methusalem ein biblisches Alter von 969 Jahren, sein Enkel Noah verpasst zwar den Einzug ins Guinnessbuch der Rekorde, kommt aber auf 950 Jahre und hatte somit genügend Zeit, seine Arche zusammenzustöpseln und die letzten Giraffen einzusammeln.
Vor rund 3000 Jahren begann die Reputation der Methusalems zu sinken, das Alter wurde mit Krankheit und Zerfall in Verbindung gebracht. Im Mittelalter, in der Zeit der grossen Pestepidemien und allgemein in Zeiten grosser Armut, sank das Ansehen der Betagten auf den Nullpunkt. Die widerlichen Lebensumstände beschleunigten den körperlichen Zerfall und liessen verwahrloste und verkrüppelte Alte zu furchterregenden Walking Dead verkommen.
«Unerwünschte Mitesser» lebten gefährlich
So hat auch Albrecht Dürer 1414 seine 63-jährige Mutter gezeichnet: Eine Greisin, die 18 Kinder zur Welt gebracht hatte, an der Pest erkrankt war und in grosser Armut gelebt hatte. Und später, während des äusserst brutalen 30-jährigen Krieges, mussten Alte gar um ihr Leben fürchten, denn sie galten als unerwünschte Mitesser.
Erst im 18. Jahrhundert, am Vorabend der Aufklärung, wandelte sich der Zeitgeist, und moralisches Verhalten wurde zur neuen Tugend, die Idee von Gleichheit und Brüderlichkeit bezog sich auch auf die Altersgruppen. Im Zuge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verschaffte die wirtschaftliche Erholung den Betagten wieder mehr Respekt.
Rollator-Crash im Supermarkt
In der egoistischen Gesellschaft der Gegenwart ist das Verständnis für die altersbedingten Beeinträchtigungen von alten Menschen erneut am Schwinden. «Alt» ist ein Synonym für «verbraucht», «kaputt» und «wertlos».
Betagte verlegen Brille und Hörgerät, crashen mit dem Rollator die Tiefkühltruhe im Supermarkt, grübeln an der Kasse endlos im Portemonnaie und lassen den Fünfräppler dann erst noch fallen. Diese Tapsigkeit, die jeden früher oder später in unterschiedlichem Masse trifft, versetzt manchen in Angst und Schrecken, weil er realisiert, dass im Alter Krankheit, Hilfsbedürftigkeit und Vereinsamung nicht nur die andern trifft.
Woody Allen hatte schon recht: «Das Alter ist nichts für Schwächlinge.»
Claude Cueni (62) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Kürzlich ist sein neuer Roman «Der Mann, der Glück brachte» erschienen. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.