Gestatten? Ich werde heute 90 Jahre alt – und ich bin der heimliche Herrscher der Welt: Von Afrika bis Amerika, vom Südpol bis zum Nordpol kennen mich die Kinder und Erwachsenen dieser Welt. Sie tragen mich auf ihren Uhren, ich schmücke Pullover, Etuis, Strumpfhosen und habe insgesamt einen Wert von etwa umgerechnet 153 Milliarden Franken.
Ausserdem erziele ich einen Jahresgewinn von über 55 Milliarden Franken und sorge so dafür, dass das grösste Medienunternehmen der Welt auch das grösste bleibt.
Nun gut, zugegeben: Ich habe da noch ein paar Kollegen, die auch mitziehen, unter anderen eine unerträglich faule, verfressene und freche Ente, die es in nördlichen Ländern sogar gewagt hat, mir den Rang abzulaufen. Aber sprechen wir nicht mehr von diesem Hochstapler, schliesslich habe ICH Geburtstag und nicht dieser vorlaute Schreihals. Und schliesslich hat auch mein Schöpfer immer gesagt: «Denkt daran, alles fing mit einer Maus an!» Dabei, und das flüstere ich jetzt nur, stimmt das gar nicht. Eigentlich hat nämlich alles mit einem Hasen namens «Oswald, the lucky Rabbit» («Oswald, der Glückshase») angefangen.
Oswald ist meinem Erfinder Walt Disney leider abhandengekommen: Ein fieser Rechtsverdreher hat ihm die Rechte daran geklaut, und mein armer Erfinder musste am Hungertuch nagen. Bis er dem Hasen am 1. Oktober 1928 zum ersten Mal die Ohren kürzer zeichnet und mich Mortimer Maus nennt. Ja, richtig, Mortimer Maus, stellen Sie sich das mal vor! Zum Glück wackelt Walts Frau Lillian sofort mit dem Mahnfinger und meint, das sei nun aber schon ziemlich altbacken. Mickey, zu Deutsch Micky, sei viel besser.
Mein erster grosser Auftritt war heute vor 90 Jahren
Als Mickey haben mich Walt Disney und sein bester Freund Ub Iwerks – der war ursprünglich Ostfriese und hiess drum wirklich so – dann auch auftreten lassen: in meinem ersten Erfolgsfilm «Steamboat Willie», also «Dampfschiff Willy». Und das war im Übrigen genau heute vor 90 Jahren.
Da war ich aber noch nicht der Kriminalfälle lösende Saubermann, den heute alle kennen, nein, da war ich noch frech – und ehrlich gesagt ziemlich fies. Mich als Schiffsjungen triezt ein grosser gemeiner Kapitänskater, der später zu Kater Karlo wird. Und ich trieze wiederum die ganzen Tiere, die da an Bord sind, und spiele auf ihnen ein lustiges Orchesterstück. Auf Tierwohl haben die Leute noch nicht so geachtet, und die malträtierten Viecher waren ja sowieso gezeichnet. Und zwar, das war neu, exakt im Takt zur Musik. Ein Meisterstück für die damalige Zeit, so noch nicht gesehen. Die Leute waren begeistert! Ein Jahr später, im Film «The Karnival Kid», spreche ich schon – auch das ein absolutes Novum! Ich rufe: «Hot Dogs! Hot Dogs!», und die frechen Würstchen wollen von meiner Freundin Minnie einfach nicht gegessen werden. Meine Stimme ist übrigens die von meinem Erfinder höchstpersönlich! Die Leute lieben mich derart, dass sie mich in New York bald auch in der Zeitung als täglichen Comicstrip sehen wollen.
Trotz all meines Erfolgs treffen meinen Erfinder bald harte Zeiten – und auch mich, zumindest in meinem Heimatland, den USA. Sittenwächter empfinden mich als zu frech. Während ich als Comicstrip lustig bleiben darf, zeichnet mich Walt in Filmen nun recht brav. So brav, dass das Studio bald Probleme hat, weil die Leute mich nicht mehr so richtig sehen wollen. Sogar mein grosses Comeback 1940, das aufwendig, teuer und farbig animierte Musikspektakel «Fantasia», ist ein Riesenflop. Irgendwie will mich niemand so recht als Zauberlehrling sehen. Dabei nimmt Walt mit dem Film das Genre des Musikvideos vorweg, so etwas gab es noch gar nicht.
Harte Zeiten erlebt Walt auch, weil es im Ausland nicht mehr schön ist: Der deutsche «Fuehrer», gegen den Walt 1943 meinen grössten Konkurrenten, Donald Duck, im Film «Der Fuehrer’s Face» («Das Gesicht des Führers») antreten lässt, überzieht ganz Europa mit Krieg. Walt nimmt Aufträge des Pentagons an und lässt mich als Kriegspropagandist für die US-Regierung kämpfen. Na, irgendwo müssen die Dollars in den schweren Zeiten ja herkommen. Dafür sorgt Walt auch später, als er sich mit der Regierung von McCarthy gut stellt. Gewerkschafter und Sozialisten kommen ihm nämlich nicht ins Haus – die verpfeift er am 24. Oktober 1947 bei der Regierung. Einer der drei Arbeiter, die Walt denunziert, Herbert Sorrell, ist aber wirklich ein russischer Spion, wie sich später herausstellt.
Aber auch meine so beliebten Comicstrips leiden: Papier wird knapp und teuer, und die Zeitungsmacher schrumpfen meinen Platz auf ein Minimum. Das merkt man der Qualität an. Bald werden meine Abenteuer nur noch für Kinderhefte gezeichnet. Und ehrlich gesagt: Mitte der 1940er-Jahre fand man Kinder noch nicht derart wichtig wie heute. Dementsprechend sind meine amerikanischen Geschichten seit den 1950er-Jahren gelinde gesagt zum Schämen. Und auch die Filme finden nicht mehr so richtig ein Publikum.
Walt liebt an Deutschland die Grimms und Neuschwanstein
Zwei Dinge retten mich. Zunächst Europa. Auch wenn Walt vehement gegen den Führer anzeichnet – eigentlich liebt mein Erfinder Deutschland. Seine Mutter ist halb Deutsche, und die Märchen der Gebrüder Grimm haben ihn geprägt. Walts erster abendfüllender Film ist denn auch «Schneewittchen und die sieben Zwerge» (1937). Und das bekannte Disneyland-Schloss, das 1955 in Florida eröffnet und 1995 gar zum Disney-Logo wird, hat im Original der bayerische König Ludwig II. gebaut: Neuschwanstein, das Walt 1935 besuchte, hat bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen – und in Europa erkennt man die Bildsprache und liebt sie. Gegen die Juden hatte Walt übrigens nichts, auch wenn böse Zungen das behaupten. In der Walt Disney Company, die ab der Gründung 1923 immer grösser wird, haben mich nämlich diverse jüdische Kollegen gezeichnet.
Mein zweiter Retter ist der Amerikaner Floyd Gottfredson (1905–1986). Der überaus talentierte Geschichtenerfinder und Zeichner steigt 1930 in eine Erzählung ein, die Walt schon konzipiert hat – und verändert sie völlig: «Mickey Mouse in Death Valley» («Micky Maus im Tal des Todes») heisst die Erzählung. Floyd macht daraus einen Krimi mit Erbschleichern, bösen Sheriffs und fiesen Anwälten.
Der Comicstrip ist so erfolgreich, dass Floyd von da an die Geschichten selber entwickeln kann – und sich sorgfältige und aufwendig gezeichnete Szenarien überlegt, die jedem Agententhriller gut anstünden: Unterwasserverfolgungsjagden, Geheimgänge in mittelalterlichen Schlössern, exotische Landschaften. Zudem bevölkert er die Geschichten mit Dunkelmännern wie Geheimagenten und Spionen, mit Terroristen, Wahnsinnigen und organisierten Verbrechern. Während er in den USA nach dem Krieg nur noch belanglosen Kinderkram zeichnen kann, gibt es in Italien aber längst Gottfredson-Fans. Dort erfinden mich so ab den 1950er-Jahren zwei talentierte Geschichtenerfinder und Zeichner für die lokale Disney-Abteilung weiter: Romano Scarpa heisst der eine, Giovan Battista Carpi der andere. Sie muten Kindern in bester Gottfredson-Tradition auch mal richtige Bösewichte und komplexe Erzählungen zu und führen deshalb «Topolino», wie ich in Italien heisse, europaweit zu grösstem Erfolg – auch wenn wie gesagt im Norden mehr Donald-Fan-Banausen hausen.
Ich darf mein Aussehen nicht verändern
Von meiner Erstarrung in den USA, finde ich, habe ich mich bis heute nicht recht erholt. Seit Jahrzehnten darf mein Aussehen nicht mehr verändert werden. Nur ein neuerer Film schliesst an meine frühe anarchische Tradition an, die mich 1928 so beliebt gemacht hat: «Runaway Brain», zu Deutsch «Micky Monstermaus». Er zeigt mich, wie ich beim Computer-Gamen den Hochzeitstag mit Minnie vergesse und sie darum in teure Ferien einladen muss. Um Geld zu beschaffen, melde ich mich bei Dr. Frankenollie und stelle mich ihm für Medikamententests zur Verfügung – und das geht natürlich ziemlich schief. Geschrieben hat den wilden Kurzfilm übrigens ein Deutscher. Das amerikanische Mutterhaus hat mich als Monstermaus – trotz der Oscar-Nomination 1995 – sofort aus dem offiziellen Programm genommen: Zu wenig brav war ich ihnen in dem Film.
Aber ich muss ja auch nicht mehr mit lustigen Filmen punkten, ich bringe ja auch so Geld ein: wie erwähnt unter anderem auf Pullis, Uhren und Teetassen. Und in die Musik und die Kunst, wie ihr über diese Seiten verteilt seht, bin ich auch längst eingegangen – und werde da wohl auch für die nächsten 90 Jahre bleiben. Bis dann!
Eure Micky Maus
Grosse Sammlerausgabe zu Mickys 90. Geburtstag mit unveröffentlichtem Material aus den Disney-Studios: Walt Disney’s Mickey Mouse: Die ultimative Chronik, 29 x 39,5 cm, 496 Seiten, 150 Euro, Taschen Verlag.
Grosse Micky- Maus-Ausstellung in New York, mit Multimedia- Installationen, Kurzfilme und Überraschungen. 8. Nov. 2018 bis 10. Feb. 2019, Öffnungszeiten Dienstag bis Sonntag von 10 bis 20 Uhr, Nr. 60, 10th Avenue, New York City.
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