1968. Die Jahreszahl hat sich tief in unser kollektive Bewusstsein eingeschliffen. «Das Jahr 1968 ist in die Geschichte eingegangen als Jahr einer transnationalen Jugendrevolte – einer Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse, wie es sie in dieser Radikalität zumindest seit 1945 in der westlichen Welt nicht gegeben hat», urteilt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler (79) in seinem Epochenwerk «Geschichte des Westens.»
Die Revolte mündete in eine Fundamentalkritik am spätkapitalistischen System, am erstarrten politischen und wirtschaftlichen Establishment, das sich in Europa aus dem Krieg in die Friedenszeit hinüberretten konnte. Der alte europäische Westen stand dabei erstmals gemeinsam mit der Vorbild-Demokratie USA am Pranger – ebenso wie die sozialistischen Experimente im europäischen Osten.
Vietnamkrieg, Prager Frühling
Die USA hatten sich im Urteil der meist kurz vor oder während des Zweiten Weltkriegs geborenen Protestgeneration mit dem Vietnamkrieg jede moralische Autorität verspielt, und selbst für einstige Bewunderer war die kommunistische Sowjetunion nach der brutalen Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag im August 1968 desavouiert. Im europäischen Kernland Deutschland geisselten die Studentenbewegten die Kontinuität der NS-Eliten, die sich in der BRD wieder heimisch eingerichtet hatten.
Daraus baute sich eine mächtige, moralisch aufgeladene Protestfront auf, Brennpunkte waren unter anderem Berlin und Paris, aber auch die Schweiz wurde vom Aufruhr erfasst. Grenzüberschreitend zog man gegen jede Form von Diskriminierung und Imperialismus zu Felde.
Warten auf den «neuen Menschen»
Den propagierten «neuen Menschen» in einer herrschaftsfreien Gesellschaft hat diese Protestbewegung nicht hervorgebracht. Aber sie hat immerhin unfreiwillig den Beweis erbracht, dass die angeblich so verkrusteten westlichen Gesellschaften durchaus reformfähig sind.
Und die 68er haben sich ihren eigenen Mythos gebastelt, der bei den Nachgeborenen nicht gerade hoch im Kurs steht. Einer von ihnen schreibt in der «Zeit»: «Uns nervte die penetrant-herablassende Attitüde der 68er, mit der sie auf uns herabschauten. Ihre Selbstherrlichkeit, ihre unangebrachte Arroganz, ihr ständiger Vorwurf, wir seien im Gegensatz zu ihnen unpolitisch, ihres Erbes nicht wert.»
Fünf Jahrzehnte nach 1968 stellt sich die Frage: Was bleibt von der Studentenrevolte, die damals Europa erschüttert hat? BLICK gibt in einer Serie zwölf Antworten.