Den Berggebieten und ihren Bewohnern setzt der grüne Winter zu. Allen Bewohnern? Nein. Für unsere pflanzenfressenden Wildtiere sind die milden Temperaturen ein Segen. «Sie brauchen weniger Energie und haben mehr Nahrung», sagt Kurt Bollmann (60), Wildtier-Ökologe der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
Denn was für uns ein weisser Märchenwinter, ist für die meisten Wildtiere ein harter Überlebenskampf, um ihre Körpertemperatur hoch zu halten. Selbst typische Gebirgstiere wie Steinböcke und Gämsen, die sich vor dem Winter Fettreserven anfressen, verzeichnen gegen Ende des Winters die höchste Sterblichkeitsrate. Darum profitieren sie: «Es ist, als ob ihr Wohnzimmer besser beheizt und die Vorratskammer leichter zugänglich ist.» Vor allem für Rehe ist das milde Wetter ein Segen. Sie haben weniger Körperreserven, und mit ihren feingliedrigen Beinen und schmalen Hufen können sie sich im Tiefschnee schlechter fortbewegen – jetzt finden sie im Gebirge leichter und mehr zu fressen.»
Schlaraffenland für Wildschweine
Besonders wohl fühlen sich Wildschweine im Flachland beim warmen Wetter: Sie wühlen in der oberen Bodenschicht nach Nahrung, die bleibt derzeit weich. Ob deshalb die Jagd-Vorgaben für 2023 erhöht werden, kann man laut Bollmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. «Aber die Voraussetzungen, dass es mehr Wildtiere durch den Winter schaffen, sind mit dem milden Start gut.»
So sehr viele Tiere die milden Temperaturen gerade geniessen – auf lange Sicht werden solche Winter zum Problem. «Wenn das zur Normalität wird, beeinflusst es die Wechselwirkungen im Ökosystem», so Bollmann. Heikel ist die für den Klimawandel typische Häufung von starken Temperaturschwankungen: «Das macht die Böden mal matschig, mal steinhart gefroren.» Das wird dann sowohl für Wildschweine sowie Mäuse schwierig – Letztere leben im Winter unter der Erde und sind die wichtigste Nahrungsquelle für unsere Wiesel.
Gefahr für Winterschläfer
Für Winterschläfer wird der Temperaturanstieg erst heikel, wenn er von Dauer ist. «Ein Murmeltier geht im Oktober in seine Höhle, egal ob es 5 oder 20 Grad ist», sagt Bollmann. Denn der Start des Winterschlafs wird hormonell und über den Tag-Nacht-Rhythmus gesteuert. Weil in der Höhe trotz milden Temperaturen Schnee liegt, ist der Murmeli-Bau von oben isoliert wie ein Iglu. Das Innenklima verändert sich trotz milden Aussentemperaturen kaum.
Schwieriger kann es diese Saison für Winterschläfer wie Igel oder Fledermäuse werden. So früh im Winter sei die Gefahr noch nicht so gross, aber wenn es im Februar wieder so warm wird, könnten sie aufwachen. «Das kostet sie viel Energie», sagt Thomas Wirth, Biodiversitätsexperte beim WWF. «Viele Wechsel zwischen warmen und kalten Phasen brauchen ihre Reserven auf. Wenn sie dann zu früh aufwachen und wegen den noch fehlenden Insekten keine Nahrung finden, drohen sie zu verhungern.»
Vögel bleiben öfter hier
Vom fehlenden Frost und Schnee profitieren auch die überwinternden Vögel. «Einige sparen sich sogar die anstrenge Reise in den Süden», sagt Livio Rey (32), Biologe an der Vogelwarte Sempach. Denn es sind nicht die Temperaturen, die die Vögel zum Flug in den Süden zwingen, sondern die Nahrungsverfügbarkeit. Etwa bei Rotmilan und Weissstorch wird schon länger beobachtet, dass sie den Winter in der Schweiz verbringen. «Wenn kein Schnee liegt, finden sie im Winter auch bei uns genügend Nahrung und bleiben vermehrt hier», sagt Rey.
Ein grösseres Problem als die aktuell zu milden Temperaturen, darin sind sich die Experten einig, ist also die Klimakrise. «Der Zeitplan voneinander abhängiger Arten gerät durcheinander, Pflanzen werden weniger bestäubt, Insektenfresser finden zu wenig Nahrung für ihre Jungen», sagt Wirth vom WWF.