Ernst Koehli (1913–1983) interessierten Menschen. Er fotografierte sie beim Kabelverlegen, beim Krawattennähen, beim Demonstrieren. In Schwarz-Weiss. Mit seinen Bildern legte er einen intimen Blick auf das Leben im Arbeitermilieu frei, aus dem er selbst stammte. Meist im Auftrag von Gewerkschaften, Parteien, Hilfswerken und Industriebetrieben. So wurde der Zürcher Fotograf zum Chronisten der Kriegs- und Nachkriegs-Schweiz. Zum vergessenen aber. Ein neues Buch gibt nun Einblick in sein Werk.
Frauen nähten Fliegen
Der Zweite Weltkrieg war vorbei, der Aufschwung kam schnell. Im ganzen Land gingen neue Fabriken auf. Bis in die 60er-Jahren beschäftigte die Industrie die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung. Diese wollte nun ihr Geld ausgeben, wollte nach der entbehrungsreichen Zeit optisch etwas hermachen. Näherinnen waren zu jener Zeit gefragt. Der Beruf galt als etwas Rechtes. So sass manch junge Frau mit ihrer Schürze in einer Fabrik und nähte Krawatten und Fliegen. So wie hier 1946.
Die Swissair hob ab
Während des Krieges wurden Flugzeuge als Mördermaschinen benutzt. Danach schenkten die silber glänzenden Vögel den Menschen Freiheit – und davon wollten immer mehr ein Stück. Die Swissair wuchs kräftig: Hatte sie 1946 noch 206 Angestellte, waren es fünf Jahre später bereits 1600. Die Männer in den Werkstätten waren Pioniere. Sie tüftelten an neuen Erfindungen herum, entwickelten die Flugzeuge ständig weiter. So weit, dass 1947 der erste Langstreckenflug nach New York möglich war. Ein Kinderspiel war das also nicht. Jeder Arbeitsschritt war Handarbeit – vom Piloten, der den Vogel eigenhändig durch die Lüfte navigierte, bis hin zum Mechaniker, der regelmässig die Flugzeugteile abmontierte, prüfte und wieder anbrachte. Fingerspitzengefühl war sogar dann gefragt, wenn die Männer die Maschinen mit Reisekoffern füllten. Die Lasten mussten ideal verteilt werden, sonst wurde es gefährlich.
Als alle ein Telefon bekamen
Eigentlich begann der Siegeszug des Telefons schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Weltweit zumindest. In der Schweiz liess man sich mehr Zeit. Noch zu Beginn der 1940er-Jahre gab es in manchen Dörfern nur ein einziges Telefon. Die Schweizerischen Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) wollten das ändern und heuerten Tausende von Telefon-Handwerkern an. Man nannte sie «Kabeler». Sie schwärmten aus und verlegten faustdicke Kabelstränge im Boden. Andere montierten die Kabel in schwindelerregender Höhe an den Telefonmasten. Der Einsatz lohnte sich: 1952 gab es kaum einen Haushalt, der kein Telefon hatte.
Zeit der Streikwellen
Heute bringt der Klimaschutz die Menschen auf die Strasse, während des Zweiten Weltkriegs waren es die Arbeitsbedingungen. Der Krieg trieb die Preise in die Höhe, die Arbeiter hatten mit einem krassen Reallohnverlust zu kämpfen. Bald machte das Gerücht eines zweiten Generalstreiks die Runde. Die Regierung zitterte. Deshalb versprach der Bundesrat 1944 die Einführung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) bis 1948. Das reichte der Arbeiterschaft aber nicht. Sie streikte in den Nachkriegsjahren immer wieder. Bis zahlreiche Gesamtarbeitsverträge ihr bessere Bedingungen zusicherten. Und bis ab 1950 die Wirtschaft boomte.
Im Heim versorgt
60'000 Menschen versorgte der Staat im letzten Jahrhundert in Anstalten. Ohne dass sie etwas verbrochen hätten. Weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. So wie diese Menschen hier 1946 im Bürgerheim Herisau. Sie waren alt, arm, taub, stumm oder galten als debil. Sie hatten ein arbeitsreiches Leben hinter sich. Und mussten selbst im hohen Alter bei der Haus- und Feldwirtschaft im Heim mithelfen. Suchten Steine auf den Feldern, befreiten Kartoffeln von ihren Wurzeln. Sie sind Zeugen und Opfer eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte.
Herausgegeben von Christian Koller und Raymond Naef, «Chronist der sozialen Schweiz», Hier und Jetzt Verlag, 2019, 59 Fr.: Buchvernissage am Donnerstag, 24. Oktober, 19.30 Uhr, Kanzlei-Turnhalle, Kanzleistrasse 56, Zürich