Jetzt nicht am Schluss noch die Nerven verlieren. Nach fünf Stunden am Päckli-Tisch ist Destiny das letzte Geschenk, das ich einpacke. Destiny ist ein ferngesteuertes Einhorn.
Ich bin so konzentriert, dass ich die Umrisse des Käufers, der mich gnadenlos fixiert, nur noch verschwommen wahrnehme. Im Hintergrund läuft zum hundertsten Mal die Kinderchor-Version von «Stille Nacht».
Ich hatte den Käufer gewarnt. Ihm erklärt, dass ich ein Journalist bin, der wissen will, wie es sich anfühlt, in der Weihnachtszeit für einmal auf der anderen Seite des Päckli-Tischs zu stehen. Dort die Käufe der gestressten Kundschaft in kleine Kunstwerke mit Schleife zu verwandeln. So schnell wie nur möglich!
Datum des Selbstversuchs: Adventssonntag, 9. Dezember 2018. Ort: Manor, Bahnhofstrasse Zürich, die grösste Filiale der Warenhauskette in der Deutschschweiz.
«Kein Problem, dass Sie das zum ersten Mal machen», sagt der Käufer, der Destiny seinem Göttikind schenken wird. «Sie können es immer noch besser als ich.»
In der Branche nennt man sie «Päckli-Damen», die vier Frauen, die mit mir hinter dem Tresen im – 1 stehen. Hier, in der Accessoire-Abteilung, verpacken sie Waren aus fast allen sechs Stockwerken des Hauses. Bis zu 500 Mal pro Tag.
Päckli-Dame Christina Müller hat mich unter ihre Fittiche genommen – eine Abba-blonde 62-Jährige mit unzerstörbarer Freundlichkeit. Früher war sie KV-Angestellte, dann Hausfrau. Ihre drei Kinder sind erwachsen, Müller züchtet Perserkatzen. Seit vier Jahren arbeitet sie in der Weihnachtszeit am Päckli-Tisch.
Ihre Kolleginnen sind neu dabei. Eine ist 19 und will zwischen Matura und Studium ein bisschen Geld verdienen, eine ist Physiotherapeutin, eine macht sich demnächst als Grafikdesignerin selbständig.
Jede hat bereits Anekdoten auf Lager. Zum Beispiel die von der Kundin, die 25 Socken einzeln einpacken liess. «Sogar die Doppelpacks wollte sie getrennt verschenken.» Oder die vom riesigen Barbie-Haus, für das ein Dreierteam mehrere Bahnen Geschenkpapier auf dem Boden auslegen musste.
Schwer einzupacken: Objekte mit weichen und harten Oberflächen
Ich bin kein schlechter Verpacker. Doch unter diesen Umständen … Ich stehe im grellen Kunstlicht, von oben drückt mir die Hitze eines Scheinwerfers auf den Kopf, von unten bläst die Klimaanlage Kälte an meine Beine. Die Luft ist so trocken, dass sich mein vorweihnächtlicher Reizhusten nur noch schwer unter Kontrolle halten lässt. Meine Kontaktlinsen fühlen sich an wie Sand in den Augen.
Destiny kommt in einer Kartonpackung in Form einer Scheune daher, aus deren Tor sie keck herausschaut. Eine Kombination aus harten und weichen Oberflächen, aus Kanten und Rundungen. Ihr Horn ist spitzig. Eine Herausforderung.
Es sind hauptsächlich Frauen, die an diesem stürmischen Sonntag durch die Abteilung bummeln. Viele Mutter-Tochter-Paare, die ihre schicksten Winterstiefel tragen. Sie kommen aus allen Regionen der Schweiz, aus der Romandie, aus dem Wallis. Oder von weit her: Ein Inder nutzte den Zwischenstopp seiner Reise von Mumbai nach New York für einen Shoppingtrip. Sackmesser laufen heute gut.
Eine 17-Jährige, die ich heute bediente, war mit ihren Freundinnen unterwegs, die am Eingang auf sie warteten. Fürs Foto hatte sie nur ganz kurz Zeit und posierte dafür wie ein Instagram-Star. Zuvor hatte ich für sie eine Bettflasche mit rosafarbenem Kunstfell-Bezug eingepackt. Für ihre Cousine, wie sie sagte, die immer Schmerzen habe während ihrer Tage.
«Die drei Fragezeichen» gibts in einer weiblichen Version
Eine Mutter, mit der ich sprach, liess ihre Tochter ihre eigenen Geschenke aussuchen. Am 24. werden sie – von mir verpackt – unter dem Weihnachtsbaum liegen. Dabei ein Band der Buchreihe «Die drei Ausrufezeichen». Im weiblichen Pendant zu «Die drei Fragezeichen» lösen drei Detektivinnen rätselhafte Fälle. Dass es eine Lego-Linie Namens «Friends» gibt, zu der ein Beach-Resort inklusive Jetski-Vermietung gehört, wusste ich bis heute nicht. Je mehr Spielzeug ich heute eingepackt habe, desto mehr begann ich, mich um meine Kindheit betrogen zu fühlen.
Spielwaren sind neben Büchern und Delikatessen die beliebtesten Weihnachtsgeschenke. Die Wirtschaftsberatungsfirma Ernst & Young befragte 400 Schweizer zu ihrem Konsumverhalten in der Weihnachtszeit (SonntagsBlick berichtete).
Der grösste Teil der Befragten schätzt das Shoppingerlebnis in der Stadt. Die Menschen, die ich heute bediente, kamen ironischerweise aus Gründen nach Zürich, aus denen ich die City an solchen Tagen meide: weil viel los ist, wegen des Rummels an den Weihnachtsmärkten und im Hauptbahnhof, wo der Weihnachtsbaum mit dem Swarovski-Schmuck steht.
Schweizer Warenhäuser machen an Weihnachten 30 Prozent ihres Umsatzes
Trotz boomender Online-Shops geben die Schweizer in der Weihnachtssaison immer noch am meisten in Einkaufszentren und Warenhäusern aus. Unter anderem, weil sie die Ware dort besser beurteilen können und Versandkosten sparen.
Schweizer Warenhäuser machen mit dem Weihnachtsgeschäft rund 30 Prozent ihres Umsatzes. Stefan Böger, Direktor der Manor-Filiale an der Bahnhofstrasse, darf keine genaue Zahlen nennen, sagt aber, dass sich der Umsatz vom ersten bis zum letzen Sonntagsverkauf verdoppelt.
Am meisten Leute erwartet Böger dieses Jahr am Samstag, 22. Dezember. Auch am Sonntag, dem 23. Dezember, wird viel los sein, doch den Tag hätten viele schon für Familienanlässe reserviert. Am 24. steht der Einkauf für das Festessen im Vordergrund.
Christina Müller und ihre Kolleginnen werden am letzten Werktag vor Weihnachten Geschenke einpacken, bis das Licht ausgeht. Kurz vor Ladenschluss wird es vor dem Päckli-Tisch wie jedes Jahr einen Rückstau durch den ganzen Stock bis zur Rolltreppe geben. Irgendwann wird Müller den Kunden nur noch das Papier mitgeben. Ich bin froh, bin ich dann nicht mehr hier.
Ich entferne jetzt das Preisschild (44.90 Franken) von Destiny, stemple die Quittung mit «bezahlt» ab und reisse mit Schwung ein grosses Stück rotes Papier von der frei hängenden Rolle. Dann lege ich das Einhorn mir der Rückseite nach oben aufs Papier und beginne mit dem Einpacken. Der Klebstreifen, den ich einhändig aus einer überbeanspruchten Halterung ziehe, ist für meinen Geschmack viel zu schmal. Wenn ich ihn abtrennen will, rutscht er über die stumpfen Metallzähne. Beim dritten Versuch gelingts.
Christina Müller hat mir heute eine Schleife «à la Christina» gezeigt, für die ich Geschenkband in zig Schlaufen um meine Finger wickeln musste. Meine Aufnahmefähigkeit sank mit jedem Schritt, den sie mir erklärte. Das in dieser Hektik zu rekonstruieren – no way!
Die Kunden sind froh, dass sie nicht selbst einpacken müssen
«Die Kunden sind alle sehr nett», hatte Müller zu mir gesagt – und damit bis jetzt recht behalten.
Ich fühle mich schlecht, wenn ich daran denke, wie unnett ich mich als Kunde am Päckli-Tisch schon aufgeführt habe. Manchmal weiss ich bereits nach fünf Sekunden Zuschauen, dass ich es zu Hause nochmals aufmachen und selbst verpacken werde.
Wenn mir ein Angestellter ein nicht so schön verpacktes Geschenk entgegenstreckt, kann ich einen unmissverständlichen «Das können Sie nicht ernst meinen»-Blick aufsetzen.
Falls meine Kunden Ähnliches dachten, liessen sie es mich heute nicht wissen. Ich habe für sie den Doktor gemacht, mich bald nicht mehr ans Corporate-Päckli-Design von Manor gehalten, Bändel gebunden, wo es auch eine vorgefertigte Schleife getan hätte, und Kleinigkeiten mit Papier verpackt, die ich auch einfach in ein Couvert hätte stecken können. Die Kunden schienen einfach nur froh darüber zu sein, dass ich ihnen Arbeit abnahm. «Es wird ja sowieso wieder aufgerissen», sagten einige pragmatisch.
Vor mir liegt die fast fertig verpackte Destiny. Ich klappe das letzte Stück Papier herunter, um es festzukleben, als ich ein Geräusch höre, das mir das Blut in den Kopf schiessen lässt. Ich mag gar nicht hinsehen. Als ich es doch tue, sehe ich den Riss.
Ich schaue beschämt nach oben ins Gesicht des Käufers, der mich säuerlich anlächelt. Hinter ihm hat sich eine Schlange gebildet, aus der die Kunden ihre Köpfe recken. Jeder meiner Handgriffe wird minutiös verfolgt. Ich stehe mit rotem Kopf im Blitzlichtgewitter der Fotografin. «Es tut mir leid, aber das muss jetzt wohl oder übel jemand Professionelles nochmals machen», sage ich. Ich bin in diesem Moment einfach nur froh, dass es Menschen wie Christina Müller gibt.