Von Pharmafirmen vergessen
Sie schenkt kranken Kindern Hoffnung

Pharmafirmen ignorieren seltene Krankheiten – weil sich die Entwicklung von Medikamenten gegen diese nicht lohnt. Caroline Kant und ihre Stiftung EspeRare schaffen aus der Schweiz Abhilfe. Ihrer eigenen Tochter kann sie aber nicht helfen.
Publiziert: 28.06.2020 um 18:32 Uhr
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Caroline Kant kämpft mit ihrer Stiftung EspeRare für die Behandlung von seltenen Krankheiten.
Foto: Zvg
Silvia Tschui

Manchmal können erschwerte Umstände einer einzelnen Person vielen anderen Menschen helfen. Die Genfer Stiftungsdirektorin und Neurobiologin Caroline Kant entwickelt mit ihrer Stiftung EspeRare – eine Wortschöpfung aus «espoir» (franz. Hoffnung) und «rare« (engl. selten) – Behandlungsansätze für seltene Erkrankungen. Diese werden von der Pharmaindustrie in der Regel vernachlässigt. «Die Forschung zur Entwicklung von Medikamenten und Therapien ist unglaublich aufwendig und teuer», erklärt Kant, «es lohnt sich für Pharmafirmen deshalb nur, in die Entwicklung eines neuen Medikaments zu investieren, wenn der Absatzmarkt genügend gross ist» – also wenn ein Medikament oder eine Therapie so oft oder so teuer verkauft werden kann, dass die Pharmafirma Profit generiert.

Seltene Therapien lohnen sich erst ab 200'000 Dollar pro Patient

Kant empfindet dies als zutiefst ungerecht, auch weil Pharmafirmen bei den wenigen seltenen Krankheiten, für welche sie tatsächlich Therapien entwickeln, auf ein Hochpreissegment zielen – gemäss Kant mehr als 200'000 US-Dollar pro Behandlung eines Patienten. Das sei aktuell in einigen Ländern noch knapp bezahlbar, da von den rund 7000 seltenen genetischen oder neurologischen Krankheiten, für die es eine dokumentierte Therapie gibt, nur rund fünf Prozent aktuell weltweit auch tatsächlich behandelt werden. In Zukunft werden diese Behandlungen für die Gesundheitssysteme kaum mehr bezahlbar sein. Kommt hinzu, dass schon heute, je nach Gesundheitssystem eines Landes, eine solche Therapie oder Medikation nur erhält, wer selber oder fast selber dafür aufkommen kann. Auch das empört Kant: «Da es sich zumeist um genetische Krankheiten handelt, betreffen mehr als 50 Prozent der seltenen Krankheiten Kinder. Es ist ethisch eine Katastrophe, wenn diese aus finanziellen Gründen keinen Zugang zu lebensverändernden Behandlungen erhalten. Es ist doppelt ungerecht – nicht nur leiden solche Kinder bereits stark, sie erfahren obendrauf auch noch eine massive Ungerechtigkeit.»

EspeRare holen Schätze aus vergessenen Schubladen

Ihrem Engagement liegt Persönliches zugrunde: Kant ist Mutter einer 18-jährigen Tochter, die jeden Tag mit einer seltenen neurologischen Krankheit kämpft, welche Epilepsieanfälle auslöst. 2013 hat Kant dann eine weitere Not zur Tugend gemacht: Als ihr Arbeitgeber, die Pharmafirma Merck Serono, in jenem Jahr beschloss, ihr Hauptquartier von Genf nach Darmstadt in Deutschland zu verlegen, mussten die Mitarbeiter entweder mit umziehen oder sich nach einem neuen Job umsehen. Merck Serono hielt für die Mitarbeiter aber dennoch ein Zückerchen bereit: eine Finanzspritze für Mitarbeiter, welche innovative Ideen für neue Geschäftsfelder präsentieren. Kant und ihre Stiftungs-Mitgründerinnen Florence Porte and Beatrice Greco trugen schon lange eine Idee mit sich herum: In den «vergessenen Schubladen» vieler Pharmaunternehmen liegen diverse Studienmedikamente und Entwicklungsprodukte, deren Markteinführung für die Unternehmen finanziell nicht attraktiv war. Die Idee hinter der Stiftung: diese bereits existierende Forschung und fertigen Medikamente für neue Anwendungsgebiete zu testen und daraus neue Behandlungsmöglichkeiten abzuleiten. Alles in einem Non-Profit-, also Stiftungsbereich, welcher aber durchaus das Potenzial hat, solcherart entwickelte Therapien gewinnbringend zu verkaufen. Kant und ihre Mitarbeiter sicherten sich einerseits die Unterstützung diverser Patientenorganisationen, die auf seltene Krankheiten spezialisiert sind, andererseits aber auch den Beistand internationaler Behörden wie etwa der European Medicine Agency oder der US Food & Drug Administration. Sie schafften es so, das obere Management für die ursprüngliche Finanzierung der Stiftung zu gewinnen. Seither hat EspeRare die Finanzierung stark erweitern können: Über 25 Millionen Franken spendeten Privatpersonen, private Stiftungen, aber auch Forschungsprogramme der Eidgenossenschaft in den letzten Jahren.

Schweizer Standort ist ideal

Essenziell für ihren Erfolg sei der schweizerische Standort in Genf, sagt Kant. «Die Nähe zu diversen internationalen Institutionen wie etwa dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) oder der World Health Organisation (WHO) ist ein riesiges Plus für uns. Genauso wie der Kontakt zu akademischen Institutionen wie der EPFL und der ETH.» Ausserdem erlaube die Schweiz für Stiftungen ein flexibles Rechtsgefüge, welches EspeRare erlaube, einerseits Stiftung zu sein, andererseits aber auch Forschungsresultate zu verkaufen, welche in die Stiftung reinvestiert werden können. Nur den Kontakt zu pharmakologischen Firmen in Basel würde Kant gern noch etwas ausbauen – momentan sind die meisten ihrer Partner in Deutschland und den USA

Sieben Festangestellte beschäftigt EspeRare in Genf und zusätzlich ein weltumspannendes Netz von rund dreissig medizinischen und pharmakologischen Koryphäen auf dem Gebiet seltener Krankheiten. Mit Erfolg: Sieben Jahre nach Stiftungsgründung entwickeln spezialisierte Fachleute weltweit Therapieansätze von EspeRare für rund zwei Millionen Kinder. Diese haben Krankheiten wie etwa die Muskeldystrophie Duchenne, in welcher sich Muskelfasern ab dem 4. Lebensjahr zunehmend zurückbilden. Oder sie leiden unter seltenen Formen von genetisch bedingten Herzfehlern oder unter genetischen Krankheiten wie Ektodermaler Dysplasie, welche sich durch ein Fehlen von Schweissdrüsen zeigt und bei hohen Temperaturen lebensbedrohlich sein kann.

Brandaktuell ist EspeRares Forschung zudem in der Covid-19-Katastrophe geworden. «Vor einigen Wochen haben wir herausgefunden, dass eine unserer Therapien, welche wir aktuell für Kinder mit einer seltenen schleichenden Muskelerkrankung entwickeln, bei Covid-19-Patienten helfen könnte, die unter Symptomen des Herz-Kreislauf-Systems leiden.» Aktuell testet eine grosse deutsche Pharmafirma, deren Name Kant für sich behalten muss, die antiviralen und Herz-Kreislauf-schützenden Auswirkungen der von EspeRare entwickelten Therapie.

Und konnte Kant mit ihrer Forschung auch ihrer Tochter helfen? «Nein, die Krankheit meiner Tochter ist nicht heilbar und hat nicht einmal einen Namen. Aber sie ist wahnsinnig stolz darauf, dass wir schon bald vielleicht einigen ihrer Klassenkameraden helfen können», sagt Kant.

Gemeinsam etwas verändern

Ashoka ist eine amerikanische Non-Profit-Organisation, die sich für soziales Unternehmertum einsetzt. Weltweit berät sie 92 Unternehmen und unterstützt diese finanziell. Am 20. Mai 2020 fand das von Ashoka organisierte Online-Event «Changemakers United» statt. Ziel war es, die Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesellschaft zu besprechen, wie auch Projekte vorzustellen, welche die durch Corona entstandenen oder verschärften Probleme lösen wollen. Auch die Schweizerin Caroline Kant nahm teil.

Ashoka ist eine amerikanische Non-Profit-Organisation, die sich für soziales Unternehmertum einsetzt. Weltweit berät sie 92 Unternehmen und unterstützt diese finanziell. Am 20. Mai 2020 fand das von Ashoka organisierte Online-Event «Changemakers United» statt. Ziel war es, die Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesellschaft zu besprechen, wie auch Projekte vorzustellen, welche die durch Corona entstandenen oder verschärften Probleme lösen wollen. Auch die Schweizerin Caroline Kant nahm teil.

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