Suchtexperte Helmut Seitz weiss, warum Alkohol oft verharmlost wird
«Es ist unser soziales Schmiermittel»

Professor Helmut Seitz betreut alkoholkranke Patienten und erklärt, worauf man achten muss, damit das Trinken ein Genuss bleibt und nicht zur Sucht wird.
Publiziert: 29.11.2019 um 17:43 Uhr
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Helmut Seitz kennt die Risiken der Volksdroge Alkohol. Als Chefarzt am Klinikum Salem in Heidelberg (D) hat er täglich mit Suchtkranken zu tun.
Foto: Zvg
Interview: Katja Richard

Als Chefarzt am Klinikum Salem in Heidelberg (D) hat er täglich mit Alkoholkranken zu tun. Professor Helmut Seitz nimmt die Gefahren des Trinkens aber auch im Alltag wahr. Der Experte für die Volksdroge will für die Gefahren des Alkoholkonsums sensibilisieren.

BLICK: Wann haben Sie Ihr letztes Glas Alkohol getrunken?
Helmut Seitz: Vorgestern Abend, ein Glas Wein. Ich trinke Alkohol, aber nicht viel. Ich bin vorbelastet mit Kopfschmerzen, ein Glas Wein oder Bier liegt gelegentlich drin. Aber mehr vertrage ich nicht. Unter der Woche trinke ich kaum, wenn, dann am Wochenende.

Es gibt Wochen, da trinke ich an fünf Abenden etwas, mal ein Glas Wein, mal ein Bier, aber auch mal drei Gläser Wein, habe ich ein Problem?
Das hängt davon ab, wie gesund Sie sind, Alkohol kann 200 verschiedene Krankheiten verursachen oder verschlimmern. Wer zum Beispiel eine Stoffwechselstörung, Schuppenflechte oder Lebererkrankung hat, dem schadet das Trinken. Bezüglich Sucht lässt sich das leicht rausfinden. Einfach mal eine Woche nichts trinken. Wenn man das Glas Wein am Abend nicht schmerzlich vermisst, hat man kein wesentliches Suchtproblem. Frauen vertragen aber in der Regel weniger Alkohol.

Warum?
Reine Biologie, Frauen haben mehr Fett und weniger Wasser im Körper, darum ist die
Alkoholkonzentration im Blut höher. Zudem haben sie weniger vom Enzym Alkoholdehydrogenase (ADH) im Magen, das den Alkohol abbaut. Und Trinken hebt den Östrogenspiegel und kann wahrscheinlich über diesen Mechanismus das Brustkrebsrisiko erhöhen.

Aber es hiess doch immer, dass ein Glas Wein gesund ist?
Ja, aber dieser Unsinn ist in gross angelegten Studien widerlegt worden. Es hiess, dass Alkohol in geringen Mengen gut für die Gefässe sei, so einem Herzinfarkt vorbeugt und gar das Leben verlängert. Ein Glas Wein am Abend muss nicht schädigend sein, aber ich würde nie sagen, dass es gesund ist.

Aber tendenziell trinken wir doch weniger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren?
Wenn man den Zahlen trauen kann, ja. Aber es gibt noch immer drei Prozent der Bevölkerung, die schwer abhängig sind. Das sind noch immer viel zu viele. Betroffen sind alle Gesellschaftsschichten, heute war gerade ein Theologe bei mir im Klinikum. Akademiker können genauso abstürzen wie Obdachlose. Dazu kommen all jene, die zu viel trinken, nicht abhängig sind, aber ihre Organe schädigen.

Warum wird Alkohol so verharmlost?
Er ist unser soziales Schmiermittel. Mit einem Glas wird der Schüchterne gesprächiger, man geht offener aufeinander zu und ist lustiger. Aber das kippt schon bei 0,5 Promille. Wenn ich abends in einem Restaurant bin, wird rundherum meistens einiges mehr getrunken. Mittlerweile trinkt man über Mittag nicht mehr, weil man bei der Arbeit leistungsfähig sein muss. Dafür wird abends mehr gebechert, um Druck abzubauen.

Um wen machen Sie sich am meisten Sorgen?
Die ganz Jungen und die Alten. Es ist beängstigend, wenn Schüler sich ins Koma saufen. Je früher man mit dem Trinken beginnt, desto grösser ist die Gefahr einer Abhängigkeit. Bei Teenagern ist das Gehirn noch in Entwicklung, die Persönlichkeit wird geformt. Wer in dem Alter schon Alkohol konsumiert, fügt sich einen Schaden fürs Leben zu.

Und was ist das Problem bei älteren Menschen?
Der Stoffwechsel eines 70-Jährigen ist nicht mehr der gleiche, und die Organe sind weniger leistungsfähig. Hinzu kommt, dass ältere Menschen häufiger Medikamente einnehmen, und die interagieren mit dem Alkohol. Man ist nicht mehr gut zu Fuss, und das Risiko, hinzufallen und sich zu verletzen, nimmt zu. Altersalkoholismus nimmt zu, und das ist eine traurige Entwicklung. Unsere Gesellschaft ist emotional kühler geworden, alte Menschen sind oft einsam und suchen Trost im Alkohol.

Viele verzichten besonders im Januar für einen Monat auf Alkohol, was halten Sie davon?
Die Leber sagt schon nach ein paar Tagen danke, sie entfettet sich schon innert zwei bis drei Wochen. Der Blutdruck sinkt, der Schlaf wird erholsamer. Und es ist eine gute Methode, um zu erfahren, wie es einem ohne Alkohol geht.

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