Das Tessin ist eine klimatisch milde, zugleich eine wilde stotzige Gegend. In seinen bewaldeten Seitentälern bewahrt es eine Wildheit, die auch den Menschenschlag prägt. In dieses Tessin hat sich der Autor Fabio Andina verliebt.
Unter dem Titel «Tessiner Horizonte / Momenti Ticinesi» hält der gebürtige Luganese die Landschaft in feinen, wie beiläufig eingefangenen Prosaskizzen fest. Mit Zelt und Schlafsack zieht es ihn auf die Berge, wo von ferne der Monte Rosa zu sehen ist. Er wartet in einer schiefen Hütte das Ende des Hagelsturms ab, er porträtiert den Einsiedler Celeste, der mit nichts auszukommen scheint.
Andina interessiert sich für das Tessin abseits von Tourismus und Bankenzentrum, ohne es zu romantisieren. Die Menschen hier haben, trotz all der modernen Segnungen, viel von ihrer Einfachheit bewahrt.
Begleitet wird der zweisprachige Band von sparsam präzisen Zeichnungen des Architekten und Zeichners Lorenzo Custer. Ihr gemeinsames Buch ist eine feine Liebeserklärung an eine Region fernab der ausgetretenen Pfade, die sich ihren rauen Charme bewahrt hat.
Auch Fabio Pusterla, geboren in Mendrisio, wohnhaft im italienischen Umland von Lugano, kennt die Südtessiner Grenztäler. Sie bilden den Kern seiner poetischen Topographie. Sie sind der Raum, in dem Pusterla die vielfältigen Stimmen zum Klingen bringt.
Dabei entfaltet er seine Lyrik gerne in einem Spannungsfeld von Werden und Vergehen, Gedeihen und Zerstören. «Das Gleichgewicht liegt in der Leere des Sinns», heisst es einmal. Einzig das ätherische Wesen, «eine Libelle, vielleicht», vermag die «Desaster» der menschlichen Zivilisation aufzuwiegen.
«In der vorläufigen Ruhe des Flugs / Nella quiete provvisoria del volo» versammelt Gedichte aus den Bänden «Argéman» (2014) und «Cenere o Terra» (2018). Während «Cenere o Terra» der Naturbetrachtung, die stets auch existentielle Selbstreflexion ist, breiten Raum lässt, zeichnet sich «Argéman» durch den Wechsel von Erzählung und Verdichtung der Sprache aus, mit dem alltägliche Szenen eingefangen werden.
Diese Vielfalt der poetischen Formen erweist sich für den Übersetzer Christoph Ferber als Herausforderung, die er souverän bewältigt. Da sich die lautmalerischen o-Assonanzen ebenso wenig übertragen lassen wie die verdichtete Syntax, orientiert sich Ferber strikter am Inhalt; damit bewahrt er den Reichtum der Verweise. Fabio Pusterla verbindet Natur- mit Gedankenlyrik, melancholisch und manchmal sarkastisch, zugleich hell und offen.
Pusterla hat auch das Nachwort zu «Neue staubige Tage / Nuovi giorni di polvere» von Yari Bernasconi verfasst. Dieser setzt darin eine doppelte Klammer. Es geht ums Verlassen und Zurückkehren, um Geschichte und Gegenwart.
Darüber entspinnt sich zwischen einem lyrischen Du und einem Ich ein facettenreiches Gespräch. Gemeinsam begegnen sie kriegsversehrten Landschaften im Baltikum oder den Verwüstungen der Aktion «Kinder der Landstrasse». Der Blick ist auf die Randzonen der kollektiven Erinnerung gerichtet.
Indem Bernasconi vergegenwärtigt, was geschehen ist drückt er aus, was verdrängt wird. «Wir sind auf der Reise, aber nicht auf der Flucht», bringt er den Bewegungsmodus seiner Lyrik zum Ausdruck. Diese Regsamkeit hält wach und lebendig. Auffallend häufig bewegt er sich dabei im Auto, auf nüchternen Autobahnen. Auch dies ist ein Zeichen davon, dass Bernasconi bei allen Referenzen an lyrische Traditionen keinerlei nostalgische Gefühle hegt.
Die Reibung, der knirschende Widerstand vollzieht sich lyrisch in ein, wie Pusterla im Nachwort schreibt, «trockenes, klares, tendenziell distanziertes Sprechen der Dinge». In der stimmigen Übersetzung von Julia Dengg laden Bernasconis Gedichte ein zu einem Gang durch die Ruinen vergangener Jahrzehnte und den Staub unserer Tage. Der Autor fasst sie detailscharf und zugleich bildhaft offen in eine kantige Sprache.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)