Starkoch Franck Giovannini
«Ich bin hier, weil sich mein bester Freund umgebracht hat»

Am Montag werden in Lugano die Michelin-Sterne für die Schweiz vergeben. Franck Giovannini, Chef des Hôtel der Ville in Crissier VD, hat einen Ruf zu bewahren. Im Interview spricht er über sein Verständnis von Küche und das grosse Erbe, das er angetreten hat.
Publiziert: 22.02.2020 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2020 um 16:51 Uhr
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Franck Giovannini (45) ist der Chef im Drei-Sterne-Restaurant Hôtel der Ville in Crissier VD.
Foto: © Fred Merz
Michael Merz

Es ist fast 16 Uhr. Franck Giovannini sitzt in seiner Küche. An jenem Tisch, wo erst die Chefs essen, danach jene Gäste, die ganz nahe dabei sein wollen, wenn hier kulinarische Wunder geschehen. Auch jetzt, nach dem Service, trägt er seine Kochmütze. Er wird sie auch während des Gesprächs nicht ablegen. Nur manchmal, wenn er etwas überlegt, schiebt er sie nach hinten. Seine Stimme ist hell. Er spricht schnell. Die Sätze sprudeln.

Vorher habe ich ihn bei der Arbeit beobachtet. Wie er an der Durch­reiche steht, jedes Gericht kontrolliert, ehe es zu den Gästen getragen wird. Kaum je erhebt er die Stimme. Oft gehen die Blicke in die Menge der 26 Köche, die im lauten Chor mit einem «Oui, Chef!» antworten, wenn er die einzelnen Gerichte aufruft. Die danach, in einem streng choreografierten Durcheinander, diese Gerichte von null auf erarbeiten. Nichts lenkt ihn ab. Das hier ist kein Ort für Small Talk.

Sie haben mir gesagt, dass Sie die Gemeinschaft einer Küche, jene der Köche untereinander, über alles lieben …
Franck Giovannini: Sicher. Wenn man zweimal am Tag parat sein muss, wenn Gäste kommen, braucht das den Geist einer Equipe. Damit kann man phänomenale Resultate erreichen, ohne hat man keine Chance.

Wann haben Sie das erkannt?
Ich hätte bei uns in Neuchâtel eine Lehre in einem bekannten Restaurant beginnen sollen. Doch als ich antrat, war ich allein in der Küche. Der Vater war gerade gestorben. Es gab nichts zu lernen. Ein Lehrer in der Berufsschule half weiter, und so kam ich nach Apples, zu einem Schüler Girardets. Dort lernte ich kochen, wie man kochen muss.

Die Schweizer Koch-Legende Frédy Girardet verfolgt Sie offenbar seit Anfang Ihrer Karriere.
Auf seltsame Art ja, denn ich arbeitete stets mit Leuten, die vorher bei Frédy Girardet waren. Einer schickte mich zum anderen. So kam ich bis nach New York ...

… und von dort hierher nach Crissier VD.
Ich rief Philippe Rochat, seinen Küchenchef, an. «Einer», sagte er, «ist gerade weg. Wenn du morgen früh beginnst, ist das recht. Wenn nicht, brauche ich dich nicht.»

Am nächsten Morgen ...
War ich dort. Und es wurde mein Glück.

Es war das letzte Jahr, in dem Frédy Girardet dieses Haus führte. Was blieb?
Die unerbittliche Strenge. Dass man sauber ist. Wie man sich ­anzieht. Dass man immer genau gleich kocht. Immer gleich und ­präzise anrichtet ...

Der «Chef der Chefs»

Franck Giovannini (45) begann 1995 als Koch im Hôtel de Ville in Crissier VD. Im Vorjahr hatte Patron Frédy Girardet im Guide Michelin Schweiz auf einen Schlag drei Sterne bekommen. Giovannini blieb, als das Haus von Philippe Rochat übernommen wurde, ging 1998 für zwei Jahre in die USA, ehe er als Sous-Chef nach Crissier zurückkam, wurde 2012 unter dem neuen ­Besitzer, Benoît Violier, zum Chef. Für ­diesen erkochte er den ­Titel «Bestes Restaurant der Welt», hielt weiter die 19 Punkte von Gault & Millau und die drei Sterne von Michelin. Seit dem tragischen Suizid von Violier 2016 ist Giovannini Patron von 60 Angestellten, davon 26 Köche. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.


Franck Giovannini (45) begann 1995 als Koch im Hôtel de Ville in Crissier VD. Im Vorjahr hatte Patron Frédy Girardet im Guide Michelin Schweiz auf einen Schlag drei Sterne bekommen. Giovannini blieb, als das Haus von Philippe Rochat übernommen wurde, ging 1998 für zwei Jahre in die USA, ehe er als Sous-Chef nach Crissier zurückkam, wurde 2012 unter dem neuen ­Besitzer, Benoît Violier, zum Chef. Für ­diesen erkochte er den ­Titel «Bestes Restaurant der Welt», hielt weiter die 19 Punkte von Gault & Millau und die drei Sterne von Michelin. Seit dem tragischen Suizid von Violier 2016 ist Giovannini Patron von 60 Angestellten, davon 26 Köche. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.


Unverrückbare Disziplin war die Basis.
Und ist es noch immer. Die menschliche Seite hat sich verändert, der Professionalismus blieb. Ich sage oft zu meinen Gästen: «Was Sie hier gerade essen, ist im Grunde genommen noch immer ein Produkt von Girardet. Anders. Klar. Aber immer noch mit ihm verbunden.»

Girardet hatte seine ganz eigene kreative Sprache.
Am Anfang dachte jeder: Der ist wohl verrückt! Aber er hatte recht. Er wusste, wie er die Gerichte wollte. Der Beweis? Sie waren besser.

Welches Gericht steht denn für ihn?
Viele. Die Art, wie er mit Gänseleber umging . Unerreicht. Die ­«Canette confite aux citrons verts», die konfierte Ente, hat mich geprägt. Ein Gericht von teuflischer Einfachheit, und doch hatte ich jedes Mal Angst, wenn ich es machen musste . Er forderte die Küche des Moments.

Alles musste à la minute gekocht werden.
Ich hasse dieses «Vorkochen», wie es heute mit dem Garen bei tiefen Temperaturen, dem Sous-vide-Verfahren, gang und gäbe ist. Bei uns gibt es keine Plastiksäcke im Tauchbad. Bei uns wird das Schweinefüsschen im Bratofen gegart, die Ente sowieso. Dass es so bleibt: Dafür sind wir da!

Typisch für Girardet waren auch die sensationellen Produkte.
Was immer ins Haus kam: Es war unglaublich. Auch das ist bis heute so geblieben. Der hohe Preis? Die Antwort ist immer die gleiche: Wir werden es irgendwie richten!

Seien wir doch ehrlich: Der Preis ist nicht entscheidend, wenn man die Dinge verkocht und nicht unverkauft wegwerfen muss!
Man muss als Koch lernen, wie man Einkäufe bewirtschaftet. Da hilft es, wenn ein Haus immer aus­verkauft ist. So war das bei Girardet. So ist es auch bei uns!

Und sein Nachfolger Rochat?
Seinen Anfang haben wir alle zusammen durchgestanden. Es war hart. Es gab Tage ohne einen einzigen Gast! Rochat sagte mir stets: «Ich habe bei Girardet als Chef jeden Tag gekocht. Und plötzlich galt die gleiche Küche einfach nicht mehr.» Gault & Millau hatte ihm weniger Punkte gegeben, Michelin die drei Sterne in Klammer gesetzt. Das hat er den Guides nie verziehen.

Aber er blieb der grosse Koch.
Und wie. Er hatte ein, wie selbst ich es nicht habe. Phänomenal, wie er Weine verkostete, die 15 Saucen zum Servicebeginn blitzschnell degustierte, dann perfekt korrigierte. Dazu war er von unglaublicher Grosszügigkeit. Girardet war das auch. Bloss auf seine strenge Art. Rochat aber wollte damit Freude machen. Gelang ihm dies, strahlte er selbst vor Freude. Und: Er hat dieses Haus von Girardet über­nommen. Das musste erst einer tun. Er hat es gewagt – und gewonnen.

So konnten Benoît Violier und Sie zu dem werden, was Sie geworden sind: Die nächsten beiden Herren des Hôtel de Ville!
Wir waren beide aufeinander eingestellt. Wir haben uns ergänzt. Benoît hat Rochat wie einen Vater verehrt. Und selbst wenn dieser oft rumgeschrien hat, wussten wir: Im Grunde genommen ist er wunderbar und nett. Es gab in ihm keine Bösartigkeit.

Was ist geblieben?
Er war Perfektionist, und so bin auch ich einer geworden. Er wollte, was auch mein Ziel geworden ist: Geht ein Gast von hier weg, dann muss er zufrieden sein.

Und seine Gerichte?
Die Salade de truffes aux épinards, der Spinatsalat mit Trüffeln. Und dann – natürlich – die Spaghetti ... Er hatte eine Velotour in Italien gemacht und irgendwo Teigwaren mit Spinat, Ei und Trüffeln gegessen. Er sagte: «Ich musste weinen, es war so perfekt. Das möchte ich auch!» Spaghetti aux truffes ­stehen noch immer auf meiner Karte.

Und dann kam Benoît Violier.
Er wollte Chef sein. Und wurde es. Er wollte berühmt werden. Und wurde es. Er führte das beste Restaurant der Welt. Auch das hatte er gewollt. Er liebte den Druck. Er war dafür gemacht. Er hatte stets vier Ideen zugleich ...

Seine Gerichte?
Wir sagten: Wir werden nie mehr die gleichen Dinge machen. Ein Gericht muss sich entwickeln, sonst fällt es weg.

Die Küche ist heute nicht mehr bloss Ernährung, sie ist eine Art Accessoire des guten Lebens geworden.
Was ich so nicht mag. Im Zentrum meiner Küche steht das Produkt. Jeder soll die Präzision der Ver­arbeitung erkennen. Und wenn bislang die Gerichte meist von weicher Struktur waren, so gibt es darin nun verschiedene Strukturen. Hartes, Knuspriges, Weiches ...

Mögen das die Gäste?
Und wie! Zwei Gerichte sind dabei der Renner. Das eine sind grüne Bohnen, die als Gericht gekocht, roh, püriert und als Sauce auf­getragen werden. Simple grüne Bohnen. Und jeder ist begeistert. Dann gibt es die Tarte aux pommes, eine hauchfeine Apfeltorte mit einer Caramelsauce, die ich zum ersten Mal nach einem Jagd­ essen servierte. Alle sprachen nur davon.

«Le Guide Rouge» – der rote Führer

Was das Pneuhaus Michelin 1900 als Führer zu seinen Werkstätten herausgab, enthielt damals auch allerlei andere Hinweise. Etwa jene zu Hotels und Restaurants. Daraus hat sich im Laufe der langen Geschichte der wichtigste Gastroführer der Welt entwickelt. Am Montag findet die offizielle Vergabe für die Schweiz in Lugano TI statt. Ursprünglich beurteilte der Guide vor allem die klassische französische Küche, hat dies aber geändert und schliesst nun alle grossen Weltküchen in seine Beurteilungen mit ein.



Was das Pneuhaus Michelin 1900 als Führer zu seinen Werkstätten herausgab, enthielt damals auch allerlei andere Hinweise. Etwa jene zu Hotels und Restaurants. Daraus hat sich im Laufe der langen Geschichte der wichtigste Gastroführer der Welt entwickelt. Am Montag findet die offizielle Vergabe für die Schweiz in Lugano TI statt. Ursprünglich beurteilte der Guide vor allem die klassische französische Küche, hat dies aber geändert und schliesst nun alle grossen Weltküchen in seine Beurteilungen mit ein.



Alles paletti! Das Haus immer ausverkauft. Die Kundschaft zufrieden. Doch morgen kommt der Guide Michelin heraus. Angst …?
Würde ich Nein sagen, wäre es nicht wahr. Dafür mache ich ja wirklich alles! Ich gebe mein Herz, meine Liebe für dieses Haus, damit es die drei Sterne behält. Jeden Tag komme ich um acht Uhr in die Küche herunter. Um Mitternacht steige ich wieder hinauf in den Dachstock ... Es sind lange Tage, an denen auch Fehler geschehen. Aber das gibt es nun mal. Auch wenn es mich krank macht.

... und die Auszeichnung «Das beste Restaurant der Welt»?
Gibt es das? Es gibt heute so viele Tendenzen. Angefangen bei Sushi bis zur Cuisine classique, la Cucina italiana und so fort ... Und es gibt diese Liste mit den besten Restaurants ... Schön, vorne mit dabei zu sein. Dumm, wenn es nicht so wäre. Also bin ich lieber dabei.

Und die Zukunft?
Ha ... Ich sage mir immer, dass ich, wenn ich mit 60 jemanden gefunden habe, der das kann, was es hier braucht ... Hopp! Bin ich weg. Dann hocke ich in einem Chalet in den Bergen, backe Rösti und rühre im Fondue ...

Schöner Gedanke.
Nun ja, aber dann wache ich aus diesen Träumen auf. Ich sage mir oft: Eigentlich bin ich doch viel zu bescheiden und zu unsicher für all das. Ich bin wirklich ganz einfach gestrickt. Manchmal, nach dem Abendservice, wenn ich in den Dachstock hinaufsteige ... wenn ich höre, wie der Service das Haus verlässt, der Alarm ein­geschaltet wird ... Dann sage ich mir: Putain, merde! Seit 65 Jahren gibt es diesen Betrieb. Und ich bin hier, weil sich mein Kollege und bester Freund Benoît Violier um­gebracht hat. Dann kreisen die ­Gedanken, und ich weiss: Das ist dein Auftrag. Du musst dieses Haus erhalten. Und es jemandem weitergeben, der es kann!

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