Herr Obrist, Sie wurden schon zum zweiten Mal von der renommierten Publikation «Art Review» zur einflussreichsten Person der Kunstwelt erkoren.
Hans-Ulrich Obrist: Es ist eine grosse Ehre und Anerkennung meiner Arbeit.
Halten Sie sich selbst denn auch die einflussreichste Person in der Kunstwelt?
Auf keinen Fall!
Wer ist es dann?
In ein paar Generationen stehen nur noch die Kunstwerke da. Die wichtigsten Akteure der Kunstwelt sind Künstler.
Aber Künstler brauchen ja ein Publikum.
Genau – und das ist meine Aufgabe: Kunst so vielen Leuten wie möglich zu vermitteln.
So vielen Leuten wie möglich? Für viele wirkt die Kunstwelt abgehoben.
Das sollte sie nicht sein. Schauen Sie, letzthin habe ich mit einem Taxifahrer gesprochen. Als ich gesagt habe, ich sei der Kurator der Serpentine Gallery, ist er gleich aufgetaut.
Inwiefern?
Er hat erzählt, bei einem Spaziergang im Hyde Park sei seine Tochter in die Galerie gerannt. Normalerweise wäre er da nie reingegangen. Seine Tochter war von der Architekturausstellung so angetan, dass sie jetzt Architektin werden will. Das ist es, was wir bewirken können: Kunst kann Horizonte erweitern, Grenzen sprengen, sie soll Menschen, Ideen, Themen, die ganze Welt zusammenbringen.
Viele Leute haben Schwellenangst, in eine Galerie zu gehen und verstehen insbesondere moderne Kunst nicht.
Diese Schwellenangst, sie ist wirklich ein Problem. Mein Job ist es natürlich auch, diese abzubauen. Auch wenn ich sie selber auch habe.
Sie haben Ängste, auf Menschen zuzugehen? Sie gelten als grosser Netzwerker.
Ich musste lernen, diese Angst immer wieder zu überwinden, schon als Teenager.
Können Sie das uns bitte etwas genauer erklären?
Mich hat Kunst schon als Kind interessiert. Zuerst habe ich obsessiv Postkarten gesammelt und Ausstellungen in meinem Kinderzimmer veranstaltet. Mit vierzehn, fünfzehn habe ich mich für zeitgenössische Kunst zu interessieren begonnen. Zuerst Giacometti, dann die Zürcher Künstler Fischli/Weiss. Ich musste die Menschen hinter den Kunstwerken unbedingt kennenlernen. Und da habe ich dann einfach bei denen an der Ateliertür geklingelt. Das hat Überwindung gebraucht.
Und wie hat man Sie aufgenommen?
Immer sehr positiv. Ich kann deshalb nicht bestätigen, dass die Kunstwelt elitär sei, im Gegenteil. Aber vielleicht hat das auch damit zu tun, dass es einen gewissen Charme hat, wenn ein Teenager sich brennend für etwas interessiert, womit Teenager sonst eigentlich nichts zu tun haben. So jemanden würde man doch niemals abweisen.
Und später?
Ab sechzehn bin ich jedes Wochenende mit Nachtzügen quer durch Europa gereist und habe Künstler besucht. Meine Lehr- und Wanderjahre, eigentlich beeinflusst von den Wandermönchen, die haben mich als Kind schon fasziniert.
Haben Sie so auch Künstler beeinflusst?
Das war natürlich alles vor dem Internet. Die Leute waren nicht so vernetzt wie heute. Da hat es auch den Künstlern etwas gebracht, wenn ich heute in Wien war, mit dem Nachtzug über Mailand nach Rom gefahren bin und am nächsten Tag den Römern erzählt habe, was die Wiener so machen. Ich war eigentlich eine Art analoges Internet.
Eigentlich haben Sie als Teenager schon das gemacht, was Sie heute machen.
In der Essenz ja: Ich habe mich für Leute interessiert, mit ihnen geredet und das Wissen anderen mitgebracht. Kuratorenarbeit ist es, solche Verbindungen zu schaffen. Heute sind einfach noch ein paar Aufgaben dazugekommen.
Und Sie haben heute tatsächlich noch immer Schwellenängste?
Klar, meine Aufgabe ist es ja nicht nur, Menschen, sondern auch Themenfelder, Denkweisen und Kulturen zu verbinden. Wenn sie aufeinandertreffen, entsteht Neues. Wenn ich aber plötzlich mit Physikern oder so reden muss, bin auch ich ausserhalb meiner Komfortzone.
Was macht für Sie gute Kunst aus?
Ein gutes Kunstwerk hat die Kraft, Erwartungen und Sichtweisen zu verändern. Also Leben zu verändern. Wie das mit der Tochter jenes Taxifahrers passiert ist – vielleicht wird aus ihr ja tatsächlich einmal eine Architektin. Ein gutes Kunstwerk kann mir zu verschiedenen Zeitpunkten im Leben Verschiedenes sagen. Es geht um ein Energiefeld, das viele Menschen anspricht. Manchmal gibt es auch körperliche Reaktionen wie Hühnerhaut oder Ähnliches.
Wie stehen Sie zur Kunstförderung? In der Schweiz ist das ein Politikum.
Nach meiner ersten Ausstellung in Zürich in meiner Küche habe ich mit 23 ein Stipendium von der Cartier-Stiftung gewonnen. Ohne das hätte ich meine kuratorische Arbeit nie so weiterführen können, wie ich es getan habe. Ich konnte nach Paris gehen und frei recherchieren.
Sie sind ein Freund von Fördermassnahmen?
Ja, unbedingt. Wir haben zum Beispiel mit der Luma-Stiftung und Google ein Förderprogramm für junge Künstler und Kuratoren erarbeitet. Unter 89plus.com gibts dazu Informationen.
Setzt sich gute Kunst nicht von selbst durch? Braucht es Fördermassnahmen?
Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen. Erstens: man muss sich doch fragen, was uns überhaupt menschlich macht, das ist doch die Kunst im erweiterten Sinn, also auch Literatur und Musik und Kreativität generell. In was für einer Welt wollen diese Menschen eigentlich leben, die an der Kunst sparen wollen? Jedes Buch, jede Fernsehserie, jeder Kinofilm, jede Modeströmung – alles die Arbeit von künstlerisch tätigen Menschen.
Und zweitens?
Kunst ist auch ein Wirtschaftsfaktor, das vergessen Spar-Menschen. In England erwirtschaftet die Kreativwirtschaft jährlich über 84 Milliarden Pfund, also ungefähr 120 Milliarden Franken. Jeder aus Steuergeldern investierte Förderfranken generiert ein Vielfaches. Aber das ist natürlich ein Politikum.
Wie meinen Sie das?
Kunst soll Menschen verbinden. Das ist so ziemlich das Gegenteil der Isolation, die viele Nationalisten wieder wollen. Für mich ist das gerade eine grosse Gefahr für Europa und die westliche Welt. Es gibt übrigens noch ein drittes Argument, warum Sparen bei der Kunst Blödsinn ist.
Welches?
Wenn Sie zurückschauen, ein paar Hundert Jahre, was ist uns geblieben? Der David von Michelangelo, die Venus von Willendorf – Kunst! Kunst ist das, was von uns bleibt.
Trotzdem: Gibt es nicht genug Geld im Kunstmarkt – vor allem aus Asien kommen offenbar Millionen?
Mit Ausstellungsmachen oder Künstlerförderung hat das aber kaum etwas zu tun. Im Gegenteil. Auch wir müssen aktiv Fundraising betreiben, um unsere Ausstellungen zu finanzieren.
Sie müssen dafür auch mit milliardenschweren Leuten umgehen. Fühlen Sie sich da je befangen?
Eigentlich nicht. Ich denke nie ans Geld. Und es geht ja um Inhalte, die ich zu vermitteln versuche, und diese Menschen sind ja ebenfalls daran interessiert. Insofern sind das freundschaftliche Dialoge. Und es gibt grossartige Philanthropen, die ja wollen, dass Kunst so viele Menschen wie möglich erreicht.
Hans-Ulrich Obrist über ... das Kuratieren: Bedeutet, Verbindungen herzustellen. ... die Partnerschaft: Die ist seit 22 Jahren stabil. Es ist schön und notwendig, in unseren unsteten Leben eine Konstante zu haben. ... die HSG: Professor Hans Christoph Binswanger – eine Inspiration fürs Leben. Jeder sollte ihn lesen. ... die Schweiz: Als Erstes kommt mir der Schriftsteller Robert Walser in den Sinn. ... die Politik: Alles, was ich tue, ist politisch. ... das Engadin: Einzigartiges Licht, hier entstehen Ideen. ... das Kochen: Noch nie in meinem Leben. Ich esse sogar den Zmorge auswärts.
Hans-Ulrich Obrist über ... das Kuratieren: Bedeutet, Verbindungen herzustellen. ... die Partnerschaft: Die ist seit 22 Jahren stabil. Es ist schön und notwendig, in unseren unsteten Leben eine Konstante zu haben. ... die HSG: Professor Hans Christoph Binswanger – eine Inspiration fürs Leben. Jeder sollte ihn lesen. ... die Schweiz: Als Erstes kommt mir der Schriftsteller Robert Walser in den Sinn. ... die Politik: Alles, was ich tue, ist politisch. ... das Engadin: Einzigartiges Licht, hier entstehen Ideen. ... das Kochen: Noch nie in meinem Leben. Ich esse sogar den Zmorge auswärts.
Wir führen dieses Interview in Ihrem Londoner Büro, auf Gängen und im Taxi – zwischen mehreren Terminen. Sind Sie immer so auf Achse?
Ich bin 52-mal im Jahr, also jedes Wochenende, von Freitagnachmittag bis Sonntagabend weg. Jetzt gerade fahre ich für heute Abend nach Paris und morgen weiter nach München. Genauso wie als Teenager.
Klingt stressig. Erholen Sie sich unter der Woche?
Nicht stressig, es ist ein sehr organisiertes System, anders mit Zeit umzugehen. Unter der Woche erledige ich die Serpentine-Arbeit und persönliche Projekte. Ich habe einen Researcher eingestellt. Er arbeitet bei mir über Nacht. Wenn ich um elf Uhr abends nach Hause komme, arbeiten wir eine, zwei Stunden gemeinsam, dann arbeitet er die Nacht durch und morgens um sechs besprechen wir seine Resultate. Dann gehe ich joggen und mein Tag in meinem Büro in der Serpentine Gallery beginnt.
Bekommen Sie da genug Schlaf?
Geht prima, in letzter Zeit. Ich habe ja diverse Schlafexperimente im Leben gemacht.
Ah ja? Was für welche?
Gut ging es ein paar Jahre lang, eigentlich rund um die Uhr, wach zu sein und nur alle drei Stunden eine Viertelstunde zu schlafen. Das reicht eigentlich vollkommen. Aber in meinem Büro in der Serpentine habe ich tagsüber leider keine Schlafgelegenheit. Da musste ich das umstellen.
Warum tut man sich einen solchen Schlafrhythmus an?
Ich will einfach so viel tun. Ich mache ja ausser den Ausstellungen in der Serpentine noch vieles andere – Bücher etwa: hier eines über Do-it-yourself-Kuratieren und hier über die Architektin Zaha Hadid. Hier ein Ausstellungskatalog. Und ich gebe eine Interview-Reihe heraus. Ich kuratiere Tagungen.
Ihre nächste ist nächstes Wochenende im Engadin. Worum gehts da?
Die Engadin Art Talks, kurz E.A.T., bringen alle Felder, also Kunst, Technik, Digitalisierung, Architektur und Literatur zusammen. Mit der Gründerin Cristina Bechtler sowie Bice Curiger, Philipp Ursprung und Daniel Baumann bilden wir das Kuratorenteam. Es sind verschiedene Forscher eingeladen, die über ihr Forschungsfeld reden. Und es sollen so viele Zuschauer wie möglich kommen – das ist auch eine Einladung an alle Leser.
Hans-Ulrich Obrist (48) aus Weinfelden TG ist seit 2016 künstlerischer Direktor der Londoner Serpentine Galleries im Hyde Park. Seine erste Ausstellung kuratiert er im Alter von 23 Jahren in der Küche seiner Zürcher Wohnung. Er kocht nie, um Zeit zu sparen: «Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben auch nur eine Tasse Tee gemacht.» Neben seiner Kuratorenarbeit gibt er Interview-Reihen mit diversen Künstlern und Denkern heraus, spricht an unzähligen Konferenzen, schläft kaum und ist jedes Wochenende auf Reisen. Er lebt seit 22 Jahren mit der südkoreanischen Künstlerin Koo Jeong A zusammen, seit einigen Jahren in London.
Hans-Ulrich Obrist (48) aus Weinfelden TG ist seit 2016 künstlerischer Direktor der Londoner Serpentine Galleries im Hyde Park. Seine erste Ausstellung kuratiert er im Alter von 23 Jahren in der Küche seiner Zürcher Wohnung. Er kocht nie, um Zeit zu sparen: «Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben auch nur eine Tasse Tee gemacht.» Neben seiner Kuratorenarbeit gibt er Interview-Reihen mit diversen Künstlern und Denkern heraus, spricht an unzähligen Konferenzen, schläft kaum und ist jedes Wochenende auf Reisen. Er lebt seit 22 Jahren mit der südkoreanischen Künstlerin Koo Jeong A zusammen, seit einigen Jahren in London.