Star-Dirigent Christian Thielemann im grossen Interview
«Aber zufrieden bin ich nicht mit mir!»

Christian Thielemann ist einer der grossen Dirigenten unserer Zeit. Sein Orchester, die Staatskapelle Dresden, bildet einen geradezu legendären Klangkörper. Beide kommen jetzt nach Luzern.
Publiziert: 22.05.2018 um 01:21 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 21:55 Uhr
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Der Dirigent Christian Thielemann wusste schon mit 16 Jahren, dass er mal Orchester dirigieren möchte.
Foto: Martin Lengemann/laif
Michael Merz

Es ist heiss, an diesem ­Apriltag in Dresden. Der Koloss der nachtschwarzen Semperoper liegt wie ein müdes Tier am grossen Platz zur Elbe hin. In den Gebäuden dahinter aber wird trotzdem hart gearbeitet. Der Portier meldet den Besucher. Die Assistentin führt diesen ins Dirigentenzimmer.

Dann steht der Chefdirigent in der Tür. Gross, breit, noch immer hängt eine Haartolle ins jungenhafte Gesicht. Die Augen blicken neugierig auf das Gegenüber. Dann fläzt er sich in ein breites Sofa. Er trägt ein Poloshirt. Links über dem Herzen sind die Initialen CT eingestickt: Christian Thielemann.

Was tut eigentlich ein Dirigent?
Christian Thielemann: Na, was tut der wohl? Der sucht nach einem Klang. Dabei bewegt er sich, würde ich sagen, intuitiv, sodass der ­gesuchte Klang entsteht.

Und das funktioniert immer?
Mit dem einen Orchester geht das besser, mit dem anderen weniger. Nennen wir es doch einfach Chemie … oder so.

Eigentlich unglaublich, zu was ihr Dirigenten fähig seid.
Es gibt tatsächlich Orchester, bei denen steht man hin, und es klappt. Ich weiss gar nicht, warum. Für mich etwa bei den Wiener Philharmonikern. Als wir zusammen auf einer Japan-Tournee waren, da wurde nach dem Konzert in Tokio ein Empfang ausgerichtet.Wie es so der Brauch ist, musste ich dabei ein paar Worte verlieren.

Da sagte ich dann zu ihnen: «Ich habe das Gefühl, dass ich bei Ihnen völlig ungeniert sein darf. Einfach so, wie ich bin …» Und hier, bei der Staatskapelle, ist es genau so.

Liebe auf den ersten Blick?
Ich bin tatsächlich nicht umsonst hier gelandet. Es muss 2002 oder 2003 gewesen sein. Ich stand zum ersten Mal als Gast vor dem Orchester und dachte mir: Mein Gott! Was hat dieses Orchester für einen weichen, goldenen Klang. So was würde ich gerne immer dirigieren.

Aber ich war gerade neuer Chef bei den Münchner Philharmonikern geworden. Da habe ich mir eben gesagt: «Fein. Dann hast du wenigstens ein Orchester, wo du als Gast gern hingehst!» 2012 bin ich dann hier Chef geworden.

Woher kommt denn der berühmte «deutsche Klang» der Dresdener Staatskapelle?
Schauen Sie bloss, wer hier meine Vorgänger waren. Mendelssohn, Wagner, Karl Böhm, Carl Maria von Weber, Joseph Keilberth … Das sagt alles. Und klar gibt es dadurch auch verschiedene Richtungen beim Klang des Orchesters. Heller bei Mendelssohn, dunkler bei Brahms. Aber immer unsentimental.

Dass man dann auf «deutsch» kommt, ist irgendwie logisch. Deutschland ist ja das Land mit der grössten sinfonischen Literatur. Russland, England oder Frankreich haben nicht annähernd Ähnliches.

Was mir aufgefallen ist: Ihre Bewegungen vor dem Orchester sind nicht mehr so raumgreifend wie auch schon. Das trifft sich mit dem Wort des grossen Dirigenten Ferdinand Leitner: «Ein Dirigent soll nicht zeigen, wie er dirigiert, und schon gar nicht dabei schwitzen!»
Bei mir hat sich das vor allem durch meine Bayreuth-Erfahrungen er­geben. Wenn Sie da im Sommer im Graben des Festspielhauses arbeiten – viele Stunden lang –, da kommen Sie schon ins Nachdenken.

Schwitzen? Naja, das tut dann jeder. Aber natürlich liegt das auch an den Bewegungen. Ich musste mir sagen: Dirigier kleiner. Zügle dein Temperament. Leitner hatte also recht.

Mit anderen Worten: Man wird durch eigene Erfahrungen ökonomischer. Ist weniger bei einem Dirigenten oft mehr?
Wenn man sich gut kennt. Bei der Staatskapelle etwa in Bruckners Sinfonien, in der Wiener Staatsoper bei Wagner oder Strauss. Da lege ich mich, während ich das ­Orchester führe, bloss kurz nach hinten – und schon wird das Orchester leiser. Aber klar: Sie müssen die Stücke, die sie dirigieren, einfach öfter gemacht haben.

Was Ihnen nach all den Berufsjahren nicht schwerfallen dürfte.
Der Klang wird natürlich durch die gründlichen Kenntnisse eines Werks erreicht. Bloss können Sie nicht sagen: Ich studiere gründlich und schaffe das dann in einem Jahr.

Ein Werk gültig zu dirigieren, gelingt erst nach einer langen Reihe von schief oder halbschief gegangenen Aufführungen. Dann, wenn man nach einem Abend zu sich sagt: «Irgendwie war es ganz gut. Aber zufrieden bin ich nicht mit mir.» Dieser letzte Satz bringts.

Sie haben ja, so sagt man, eine eiserne Disziplin. Nicht umsonst ist Ihr grosses Vorbild Friedrich der Grosse.
Wenn die Leute fragen: Wer packt denn Ihre Koffer? Wer macht denn Ihre Überweisungen? Dann ist die Antwort: «Ich.» Und das mit dem Kofferpacken eint mich mit Karajan. 

Nicht wirklich?
Doch. Keiko Watanabe war die Frau, die Karajans Japan-Tourneen organisierte. Eines Tages schickte man sie aufs Zimmer des Dirigenten. Sie müsse ihm helfen. Sie klopft. Karajan öffnet die Türe und ist erstaunt. Nein. Hilfe brauche er keine. Aber wenn sie schon hier sei, dann zeige er ihr, wie man seinen Koffer perfekt packe. Das hat mir gefallen.

Da bringen Sie uns eine ganz neue Seite von Karajan näher.
Sicher. Ich habe ihn ja bei wichtigen Gelegenheiten kennengelernt, mit ihm gearbeitet.

Hat er Sie auf den Weg zum Dirigenten gebracht?
Das kann man so sagen. Auch wenn das eine Weile her ist. Ich war um die 16 Jahre alt. Durch den Mann meiner Klavierlehrerin kam ich zu einem Termin. Also ging ich am Abend dahin.

Hatten Sie Schiss?
Überhaupt nicht. Er öffnete die Tür, war gleich nett. «Kommen Sie rein!» So wurde ich auch sofort meine dringende Frage los: Wie wird man Dirigent?

Das war Ihr grosser Traum?
Mit 16 Jahren sieht man sich halt als Dirigent von «Tristan und Isolde» und den «Meistersingern von Nürnberg». Man träumt davon, die 8. Sinfonie von Bruckner zu dirigieren. Ich dachte: Wozu ist man sonst Dirigent? Dazu wollte ich was vom grossen Meister hören.

Und?
Karajan erzählte mir dann die ganze Zeit: «Also wissen Sie, ‹Die lustige Witwe› ... Er sprach von anderen Operetten. Und vom Korrepetieren mit Sängern. Von ihm habe ich zum ersten Mal das Wort «Korrepetieren» gehört.

Also hat er Ihnen auch das ­erklärt?
Und wie! Er sagte mir, dass ich in der Oper anfangen müsse. Nicht mit irgendwelchen Sinfonien. Bei der Probenarbeit in der Oper lerne ein Dirigent, wie man atme. Wie man auf Sänger Rücksicht nehme, das Orchester zurückhalte, die Künstler damit stütze. Wie man sie nicht zudecke.

Er erzählte von ­seinen Anfängen in Aachen, von Opern wie «Zar und Zimmermann», dem «Wildschütz» – und immer wieder von der «Lustigen Witwe». Aber kein Wort von «Tristan» und den «Meistersingern»!

Hat es trotzdem etwas gebracht?
Klar. Er hatte mir bei diesem ersten Gespräch auch erzählt, dass man – habe man diese «Lustige Witwe» gut studiert – keine Probleme bei Puccinis «La Bohème» oder «Tosca» habe.

Ich kannte keines von beiden. Ich hielt das mit meinen 16 Jahren als für unter meiner Würde. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass er mich fragen würde: «Möchten Sie denn nicht die 8. Sinfonie von Bruckner dirigieren?»

Tat er nicht?
Nein. Ich erinnere mich, dass ich völlig verwirrt nach Hause kam. Als man mich fragte, was der Maestro gesagt hätte, antwortete ich: «Er hat die ganze Zeit nur von der Operette erzählt!» Ich schwankte zwischen grosser Enttäuschung und totaler Überraschung.

Foto: Hiroyuki Ito

Irgendwann haben Sie diese «Lustige Witwe» dann selbst dirigiert ...
... und dabei festgestellt, wie aufgeregt man da ist, wenn diese Operette ohne eine einzige Probe dirigiert werden muss. Und schwer ist es dazu auch noch!

Sie spielen heute ja in Ihren Silvesterkonzerten auch Operette.
Klar. Es gab da schon die «Csárdásfürstin» und natürlich auch die «Witwe». Wenn dazu Sänger wie Renée Fleming und Piotr Beczala diese Arien singen, merkt jeder, wie gut diese Musik ist.

Bei der Operette sind Sie völlig schamfrei!
Nur das Beste ist dafür gut genug!

Es gab dann dafür immer wieder herbe Kritik. Wie geht man denn damit um?
Bei aller Kritik gab es auch immer Ermunterungen. Ich glaube sogar, es waren mehr Ermunterungen als anderes. Und solange das Publikum eine eigene Meinung hat, muss man sowieso immer mit Kritik rechnen. Und langsam hab ichs raus. Ich musste einfach älter werden.

Alles eine Frage des Alters?
Ist man jünger, fragt man sich dauernd: Was habe ich denn falsch gemacht? Ist man älter, macht man immer noch eine ganze Menge falsch, wird aber auch gelassener.

Heute weiss ich: Ich bin immer sehr instinktiv vorgegangen. Ich bin kein Planer und werde nie ­einer sein. Ich habe eigentlich ­immer gemacht, was mir so zuge­stossen ist.

Glück und Unglück?
Wenn Sie so wollen, habe ich immer akzeptiert, was gekommen ist.

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470 Jahre Klassik

Die Sächsische Staatskapelle Dresden ist ein Unikum in der Klassikwelt. 1548 wurde sie von Kurfürst Moritz von Sachsen gegründet und existiert seither ohne Unterbruch. Sogar der Dreissigjährige Krieg oder das DDR-Regime konnten ihr nichts anhaben.

Weltberühmte Dirigenten haben sie im Laufe der Jahrhunderte geformt. Ihr Klang gilt als einzigartig schön. Seit 2012 ist Christian Thielemann Leiter der Kapelle. Thielemann ist ausserdem Musikdirektor der Bayreuther Festspiele und residiert mit der Staatskapelle während der Osterfestspiele in Salzburg.

Migros-Kulturprozent-Classics hat die Dresdener samt ihrem Chefdirigenten für einen einzigen Schweizer Auftritt in Luzern gewinnen können. Zu hören sind am Weltklassekonzert Werke von berühmten Komponisten – Liszt, Brahms, von Weber – sowie der Starpianist
Denis Matsuev.

Staatskapelle Dresden, Konzert: 31. Mai 2018, 19.30 Uhr, KKL Luzern, www.migros-kulturprozent-classics.ch

Die Sächsische Staatskapelle Dresden ist ein Unikum in der Klassikwelt. 1548 wurde sie von Kurfürst Moritz von Sachsen gegründet und existiert seither ohne Unterbruch. Sogar der Dreissigjährige Krieg oder das DDR-Regime konnten ihr nichts anhaben.

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