Schweizer Songs und Klassiker
Musik verbindet!

Weltweit wurde in den Wochen des Lockdowns mehr Musik gestreamt als sonst. Besonders beliebt hierzulande waren Klassiker und Schweizer Songs.
Publiziert: 16.05.2020 um 14:02 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2020 um 10:09 Uhr
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Radio-Favoriten: das Berner Mundart-Pop-Duo Lo & Leduc.
Foto: Geri Born
Anna Lea Spörri

Chris Martin (43), Leadsänger der britischen Band Coldplay, sitzt im gestreiften Pulli, mit Wollmütze auf dem Kopf im hauseigenen Studio und spielt die grössten Hits der Band. Akustisch und ohne Schnickschnack. Gestreamt wird das Ganze über Instagram, mehr als 300'000 Menschen schauen ihm dabei zu.

Der italienische Rapper Fedez (30) beschallt seine Nachbarn über riesige Musikboxen, die aus dem Fenster hängen, mit der inoffiziellen italienischen Nationalhymne «Azzurro» von Adriano Celentano und rappt noch ein paar eigene Songs. Es wird freudig geklatscht, hie und da mal eine Träne verdrückt. Videos von singenden Promis oder ganz normalen Menschen auf Balkonen gingen in den letzten Wochen um die Welt. Vor allem in den Anfängen der Pandemie zeigte sich, wie wichtig Musik in schweren Zeiten sein kann.

Weniger Party, mehr Zen

Bei Spotify, dem in der in der Schweiz meistgenutzten Musik-Streamingdienst, hat sich in den Lockdown-Wochen ein eindeutiger Trend gezeigt: Es wird mehr Musik gehört. Weltweit hat die Plattform im ersten Quartal 2020 15 Millionen mehr aktive monatliche Nutzer als noch 2019. Besonders beliebt sind neben News-Podcasts und kinderfreundlicher Musik akustische Songs ohne oder mit wenig Text. Weniger Bass, mehr leise Pianoklänge. Die Party-Flaute zeigt sich also auch in den Playlists.

Endlich Zeit!

Wer nicht streamt, hört Musik häufig klassisch über das Radio. Dessen Nutzung hat nach Inkrafttreten des Ausnahmezustands zugenommen. Besonders während den Hauptnutzungszeiten, so Christian-Kumar Meier von Mediapulse, der Institution in der Schweiz, welche die Hörerzahlen erhebt.

Vor allem eines ist auffällig: Wir hören länger Radio. Sender wie Radio Energy oder Radio 1 berichten von einer Zunahme der Hördauer. «Über alle acht Radiosender von CH Media, dazu gehören unter anderem Radio 24 und Radio Argovia, gesehen, stieg die Hördauer im März 2020 im Vergleich zum März 2019 um 15 Prozent», sagt auch Florian Wanner, Leiter Radio bei CH Media. Grund dafür könnte das breitflächig angeordnete Homeoffice sein. Statt im Grossraumbüro sitzen viele plötzlich zu Hause. Auch wenn das ständige Gemurmel der Kollegen manchmal genervt hat, vermisst man das Hintergrundgeräusch und macht das Radio an.

Immer her mit den Infos

Das Informationsbedürfnis der Schweizer und Schweizerinnen ist wegen des Lockdowns massiv gestiegen. Wie Zeitungen, Online-Portale, das Fernsehen und der Streamingdienst Spotify spürt auch das Radio diese Entwicklung.

In der Isolation und räumlich getrennt von der Familie oder den Freunden haben viele Menschen wohl einen grösseren Rededrang: «Grundsätzlich hatten wir in den vergangenen Lockdown-Wochen sicherlich auch viel mehr Hörergespräche on air. Das Bedürfnis unserer Hörer, sich mitzuteilen, mitzureden, Hilfe anzubieten, eigene Erfahrungen und Tipps mit anderen zu teilen, war riesig und hat viel Freude und Mut gemacht», sagt Dominique Hofer von Radio Bern 1.

Schweizer sind Spitzenreiter

So boten viele Radiostationen in den letzten Wochen auch vermehrt Raum, um Songwünsche anzubringen. Die Nachfrage nach Schweizer Songs war besonders gross. «In unserem eigens für die Corona-Zeit kreierten ‹Oster-Wunschkonzert› wurden insbesondere bekannte Schweizer Künstler wie Lo & Leduc, Patent Ochsner, Gölä und DJ Antoine oft gewünscht», so Florian Wanner.

Warum diese Sehnsucht nach Liedern von Schweizer Interpreten? Schliesslich erfreuen sich internationale Künstler wie Justin Bieber oder Billie Eilish normalerweise grösserer Beliebtheit als so mancher Schweizer Star. «Was im Lockdown ja vor allem fehlt, ist die Gesellschaft von anderen Menschen. Musik kann immerhin ein indirektes Gefühl des Beisammenseins vermitteln», erklärt der freischaffende Musikjournalist Hanspeter «Düsi» Künzler (64), der in London lebt. «Wenn diese Musik von Menschen stammt, deren Texte kulturelle und soziale Umstände beschreiben, die uns direkt betreffen, und die Redewendungen, Bilder und Gedanken verwenden, die uns in einem gewissen Mass vertraut sind, tritt dieses Gemeinschaftsgefühl bestimmt stärker auf, als wenn ein amerikanischer Künstler in globaler Rock-'n'-Roll- oder R&B-Sprache Gemeinplätze von sich gibt», so Künzler.

Grosse Geste, kleiner Trost

Viele Radiostationen haben sich entschieden, deutlich mehr Schweizer Musik zu spielen. Seit dem 23. März sendet SRF Virus sogar ausschliesslich Songs aus dem eigenen Land. Da durch die ausgefallenen Konzerte die Einnahmequelle beinahe versiegt ist, wollen die Radiostationen mit den Urheberrechtseinnahmen, die Künstler beim Spielen ihrer Songs im Radio erhalten, unterstützen. Eine Art Trostpflaster. «Dass wir damit für den Moment in erster Linie ein symbolisches Zeichen setzen, ist uns bewusst», meint Gregi Sigrist, Musikjournalist beim SRF.

In Erinnerungen schwelgen

Ein weiterer Trend, der sich vor allem bei der Spotify-Nutzung der Schweizer deutlich zeigt, ist der Wunsch nach Klassikern. Nach Liedern, die einen zurückkatapultieren in eine vergangene Zeit. Die Top-Plätze belegen, wenig überraschend, «Gute-Laune-Songs» wie «Girls Just Want to Have Fun» von Cindy Lauper oder «Dancing Queen» von Abba. Der US-amerikanische Verhaltenswissenschaftler David DiSalvo weiss auch warum: «Musik ist wie der Geruch eines dieser Dinge mit sofortigem Zugang zu einer Erinnerung.» Die Klassiker brächten viele von uns in eine Zeit zurück, in der sich unser Leben einfacher anfühlte und wir mehr Kontrolle hatten, so DiSalvo.

Auch Oldies, die thematisch in die jetzige Zeit passen, erfreuen sich grosser Beliebtheit. Das Lied «In My Room» von den Beach Boys wurde weltweit in den letzten Wochen um 44 Prozent mehr gestreamt als in der ersten Märzwoche, «Solitude» von Billie Holiday gar um 74 Prozent mehr.

Musik als Medizin?

Ist Musik also das Universalheilmittel? Ein paar Takte lauschen und die Welt ist wieder in Ordnung? Natürlich nicht. Trotzdem hat sie aber durchaus positive Auswirkungen auf die Menschen. Nicht nur psychisch. Der deutsche Neurowissenschaftler Stefan Kölsch hat bewiesen, dass fröhliche Musikstücke wie das Allegro aus Bachs 4. Brandenburgischem Konzert die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut verringern.

Musik gibt uns Kraft und Hoffnung. Sie weckt Erinnerungen und vermag es, uns zu beruhigen. Egal ob gestreamt, gewünscht oder zufällig gehört, egal ob Klassiker oder Schweizer Song.

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