Herr von Matt, seit 1977 gibt es das Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Was ist Ihre Bilanz?
Peter von Matt: Er ist eine Institution, ein alter Brauch, über den man nicht mehr streitet. Lange Zeit gab es in den Medien zwanghafte Angriffe gegen die Jury, die die Autoren angeblich fertigmachte. Dabei sind die Juroren dort genauso exponiert wie die Autoren.
Sie waren von 1989 bis 1991 Juror. Welcher Eindruck bleibt?
Der Fall W. G. Sebald, für den ich mich sehr einsetzte. Er ist heute der weltweit berühmteste deutschsprachige Autor, ein Monument. Damals erschien seine Erzählsprache vielen altmodisch, obwohl sie eine eigentümliche und kühne Modernität hatte. Das wollte man nicht sehen. Für mich war er fraglos der Kandidat für den Bachmann-Preis. Aber er erhielt nicht nur diesen nicht, er erhielt überhaupt keinen der vielen Preise. Eine Schande.
Waren Sie von den Texten manchmal auch gelangweilt?
Ich halte es für problematisch, die Literatur in kurz- oder langweilig einzuteilen. Ein faszinierender Text kann monoton sein, und doch in Bann ziehen. Überdruss verspürte ich nur, wenn die Texte auf billigen Effekt zielten und doch keine eigene Sprache hatten.
Wie kamen Sie denn zu einem abschliessenden Urteil?
Das ist immer ein komplizierter Prozess. Als ich noch in der Jury sass, bekam man die Texte erst zu sehen, wenn sie vorgelesen wurden. Man musste also nach der ersten Kenntnisnahme schon entscheiden. Da konnte man schwer danebenhauen, aber es war spannend, selbst bei schlechten Texten. Heute lesen die Mitglieder der Jury ihre längst geschriebenen Rezensionen vor. Das würde mich nicht mehr interessieren.
Hat sich die Relevanz des Bachmann-Preises in den letzten Jahren verändert?
Das müsste man im Überblick über die gesamte Preiskultur beurteilen. Die Einführung des Deutschen Buchpreises, des Leipziger Buchpreises und auch des Schweizer Buchpreises hat das Gewicht anderer Preise sicher reduziert. Selbst der Büchner-Preis ist davon betroffen, obwohl er meistens ein Lebenswerk auszeichnet.
Braucht es da den Bachmann-Preis noch?
Die Aufmerksamkeit auf das, was in Klagenfurt passiert, ist immer noch gross, die Namen der Hauptpreisträger werden beachtet und nach Jahren noch erwähnt. Insofern wäre die Abschaffung des Bachmann-Preises ein Verlust.
Zu Beginn lasen renommierte Dichter wie der Schweizer Hermann Burger, der 1985 gewann. Hatte der Preis einen Einfluss auf sein weiteres Schaffen?
Hermann Burger war einer der Autoren, die die Rituale des Bachmann-Preises genau studierten und ein Gespür für das hatten, was hier besonders gut ankam und was wenig Chancen hatte. Er schrieb seinen Text präzis auf den Preis hin, und das klappte perfekt. In Klagenfurt spielt die Performance eine wichtige Rolle. Das sieht man heute besser als früher, weil die Performance inzwischen zu einer eigenen literarischen Form geworden ist.
Eine spezielle Performance bot der deutsche Autor Rainald Goetz: Er hat sich 1983 mit einer Rasierklinge in die Stirn geschnitten. Was halten Sie von solchen Lesungen?
Goetz hatte Erfolg. Sein Akt ist heute noch legendär. Aber auf die Dauer zählte auch bei ihm nur die Qualität seines Schreibens.
Braucht es den Skandal?
Wer sonst keine Aufmerksamkeit findet, kann es probieren. Es bleibt aber ein fauler Trick. Im Übrigen ist Klagenfurt doch ein mehrheitlich harmloser Wettbewerb.
Für einen literarischen Skandal sorgte der Schweizer Urs Allemann, der auf Ihre Einladung hin 1991 «Babyficker» vorlas. Wie beurteilen Sie den Text heute?
Er war gar zu kalkuliert auf Klagenfurt hin geschrieben. Der beabsichtigte Effekt traf zwar ein, aber in einer unbeabsichtigt massiven Art. Es war ein radikal avantgardistischer Text, mit wüsten Wörtern, der aber als realistische Story verstanden wurde. Das hat viele entsetzt.
Das Spezielle am Bachmann-Preis ist die Lesung vor einer Jury. Ist es nicht widersinnig, dass sich Literatur Ad-hoc-Kritik stellt?
Es muss niemand dort lesen. Es ist ein Spiel mit bestimmten Regeln, das begabten Autoren und Autorinnen durchaus eine nachwirkende Präsenz in der Öffentlichkeit verschaffen kann. Dagegen ist nichts zu sagen. Alle Kunst hat auch einen Einschlag von Zirkus. Hermann Burger hat das gewusst.
Was bringt das dem Leser?
Es bringt denen etwas, denen solche Spiele Vergnügen machen und die sich freuen, eine literarische Stimme zu entdecken. Literatur braucht nun einmal Öffentlichkeit, und sehr viele Wege dazu gibt es halt wirklich nicht.
Ist der Preis angesichts der Digitalisierung noch zeitgemäss?
Sobald er es nicht mehr ist, wird er verschwinden. Aber die Frage ist berechtigt. Was die Digitalisierung mit den traditionellen Medien der Literatur anrichten wird, ist noch unklar. Das Buch wird mit Sicherheit nicht verschwinden, diese Erfindung ist zu genial. Aber es wird sich auf neue Weisen mit den digitalisierten Medien zusammentun.
Gibt es da schon Beispiele?
Das Gesamtereignis «Harry Potter». Es hat Abertausende neuer Leser geschaffen, sich aber auch in Filmen und Serien verbreitet. Das zeigt, dass es Platz für beides gibt. Ich bin optimistisch.
Sie verfolgten den Bachmann-Preis in den letzten Jahren nicht mehr – weshalb?
Ich sitze nicht gerne am Tag vor dem Fernseher. Es genügt mir, wenn ich die Gewinnerin oder den Gewinner erfahre. Von da an werde ich mich auf den Namen achten. Solche Signale sind wichtig. Es ist nämlich ein komplizierter und wenig erforschter Prozess, wie ein Autor breit und nachhaltig gegenwärtig wird – berühmt und geschätzt auf viele Jahre hinaus. Ebenso rätselhaft ist das Verschwinden von gefeierten Namen. Ein bitteres Problem gerade in der Schweiz.
Inwiefern?
Es ist auffällig, dass man wieder zur Formel zurückgekehrt ist, die wichtigen modernen Autoren der Schweiz seien eigentlich immer noch nur Frisch und Dürrenmatt. Damit wischt man mindestens zwei produktive literarische Generationen als bedeutungslos vom Tisch.
Können Sie dafür einen Grund festmachen?
Die Kulturjournalisten rühmen zwar viele neue Romane, hüten sich aber verbissen davor, diese in Bezug zu setzen zu wichtigen Vorgängern aus den letzten Jahrzehnten. Dabei sind es gerade solche Bezüge, die ein produktives Erinnerungsnetz ausmachen. Sonst besteht die Schweizer Literatur bald einmal nur noch aus Neuerscheinungen und den ewigen Frisch und Dürrenmatt.
In jüngerer Zeit ist der Bachmann-Preis eher eine Veranstaltung für Newcomer. Weshalb gab es Ihrer Ansicht nach diesen Paradigmenwechsel?
Es gab früher beides bunt gemischt. Das war schön und bereichernd. Es wäre schade, wenn nur noch Anfänger dort auftreten sollten.