lija Trojanow, aus Frust sind Sie nach den letzten Olympischen Spielen 2012 in London aktiver Sportler geworden. Was ist passiert?
Ilija Trojanow: Aus Frust wirft man eine Teetasse. Ich war schon immer sportlich, habe stets Sport getrieben.
Doch damals sassen Sie vor dem TV, sahen die Wettkämpfe und waren unzufrieden.
Ich dachte mir: «Irgendetwas fehlt in der Art und Weise, wie wir Sport wahrnehmen.» Meine Vermutung: Der Wahn des Grösser, Besser, Schneller führt dazu, dass uns vieles entgeht, was im Sport lauert. Das wollte ich erkunden.
Sie trainierten in den letzten vier Jahren alle 80 olympische Einzeldisziplinen in 23 verschiedenen Sportarten. Ein Wahnsinn!
Die einzelnen Schritte waren herausfordernd, einige Male musste ich an meine Mutgrenze gehen und oft an meine körperliche.
Wie viel Zeit haben Sie pro Sportart investiert?
Sehr unterschiedlich, weil die Sportarten technisch verschieden komplex sind. Beim Schiessen hat man nach zwei Stunden die Grundfertigkeiten. Da, wo man es messen kann, wollte ich die Hälfte der Leistung des letzten Olympiasiegers erreichen.
Sie hatten ein dichtes Trainingsprogramm. Wo nahmen Sie sich die Zeit für anderes neben dem Sport? Immerhin mussten Sie ja noch dieses Buch schreiben.
Zudem habe ich in dieser Zeit meinen dicksten Roman «Macht und Widerstand» fertiggestellt. Aber man kann täglich nicht mehr als sechs Stunden schreiben und nicht mehr als drei Stunden Sport treiben.
Aber wer das kombiniert, wie in Ihrem Fall, ist am Abend nudelfertig.
Ich war schon sehr müde. Aber andererseits ist das auch ein sehr gutes Erholungsprogramm, weil es sich ergänzt.
Haben Sie besser geschrieben, weil Sie Sport getrieben haben?
Ich kann nur schreiben, wenn ich daneben noch etwas anderes mache. Als ich in Kapstadt am «Weltensammler» arbeitete, machte ich abends eine Ausbildung zum Sommelier.
Haben Sie nun einen anderen Blick auf die Sportarten, seit Sie die trainiert haben?
Völlig. Ich würde behaupten, dass der normale Fernsehzuschauer überhaupt keine Ahnung von den Disziplinen hat. Bei vielen Sportarten ist die Fertigkeit, die Kunst, nicht sichtbar.
Zum Beispiel?
Rudern. Das sieht ganz entspannt aus. Die Ruderblätter zärteln durchs Wasser. Die Anstrengung ist nicht sichtbar. Und erst recht nicht die Jahre technischen Trainings, die es braucht, damit die Balance und die Gleichmässigkeit der Züge so internalisiert sind.
Gegenüber welcher Sportart ist Ihre Achtung im Laufe Ihres Trainings am höchsten gestiegen?
Am meisten haben mich die Sportarten beeindruckt, bei denen ich das Gefühl hatte, die Verbindung zwischen Leistungs- und Breitensport sei noch nicht zerrissen. Beim Radrennen etwa: Als Amateur bewältigt man dieselbe Strecke, natürlich viel langsamer, aber man hat doch das Gefühl, man lebe im selben Kosmos.
Wo ist das nicht mehr der Fall?
Beim Turmspringen. Das ist am Rand dessen, was man dem Körper zumuten kann. Die Komplexität der Salti und Schrauben sowie die Schnelligkeit erkennt man mit blossem Auge nicht. Die Achtung vor der unfassbaren körperlichen Leistung schlägt da in ein Unverständnis des Hochgezüchteten um.
Wie weit sind Sie beim Turmspringen gekommen?
Ich habe eine Wochenende lang versucht, einen Salto zu machen, und bin auch mal auf dem Gesicht im Wasser gelandet – das tut unheimlich weh.
Sie beschreiben im Buch häufig, wie Sie scheiterten.
Das Wesentliche im Leben – nicht nur beim Sport – ist das Scheitern.
Das Ziel ist aber der Erfolg, also der Sieg.
Nein. Die tief empfundene Freude, sich selber gefühlt zu haben – das ist das Entscheidende.
Wo spürten Sie diese Freude?
Ich bin den Marathon in einer unfassbar schlechten Zeit gelaufen, weil ich die letzten zehn Kilometer gehumpelt bin. Die meisten hätten aufgegeben, ich habe mich durchgebissen – darauf bin ich stolz.
Glücksmomente kennen aber auch Sieger.
Wenn Sie sich Spitzensportler anschauen, dann sind jene, die nur das Siegen im Kopf hatten, gescheiterte Existenzen. Der Schwimmer Michael Phelps, der grösste Olympionike aller Zeiten, hatte ein Alkohol- und Drogenproblem, ist völlig abgestürzt. Ich habe den deutschen Langstreckenläufer Dieter Baumann interviewt. Er sagte mir, dass ihm das Laufen erst Spass mache, seit er mit dem Leistungssport aufgehört habe.
Baumann hat man des Dopings bezichtigt. Ist das Aufpuschen erst durch dieses ständige Streben nach Siegen gekommen?
Wenn man ins antike Olympia in Griechenland geht, sind dort die Namen von Dopingsündern in Stein gemeisselt. Das Problem gab es also schon damals. In der Antike hatten die Athleten auf Lebenszeit ausgedient und waren Ehrenbürger ihrer Städte – das verstärkte die Gefahr des Betrugs.
Und heute?
Die Olympischen Spiele bringen den Athleten ein Alleinstellungsmerkmal: Sie können grosse Werbeverträge abschliessen, erhalten an den Meetings hohe Startprämien. Kommt der Olympiasieger in den Letzigrund nach Zürich, gibt es richtig viel Geld.
Stichwort Zürich: Sie haben dort den Kampfsport Taekwondo trainiert. Weshalb?
Ich bin relativ häufig in Zürich, weil meine Tochter dort lebt. Und ich habe von diesem sehr guten Coach gehört.
Wie wussten Sie, wo Sie die jeweilige Sportart am besten trainieren konnten?
Bei manchen lag es auf der Hand: Judo in Japan – klar. Im Iran verehrt man Ringer mehr als Fussballstars. Und Kenia wählte ich, weil ich dort aufgewachsen bin.
Hand aufs Herz: Sie wollten als notorischer Nomade einfach rund um die Welt reisen.
Nein, das mache ich so oder so. Dafür brauche ich keinen Anlass.
Ihre Trainer verglichen Sport häufig mit Schach oder Ballett. Welcher Vergleich überzeugt Sie mehr?
Der Schach-Vergleich ist witzig: Der sagt nichts anderes als «Sportler, denk nach». Bei einigen Disziplinen ist das allerdings hinderlich. Ballett ist auch ein schöner Vergleich: Selbst bei Sportarten, bei denen die Teilnehmer korpulent wirken, ist es erstaunlich, wie filigran die Bewegungen sind. Beim Hammerwerfen zum Beispiel.
Als Sportfan verfolgen Sie vor allem Leichtathletik und Tennis, den Ballsport sogar aktiv. Hatten Sie da Vorteile?
Bei allen Ballsportarten haben mir die Trainer sofort sehr gute Koordination attestiert. Beim Tennis ist es ja so, dass man nicht alle, aber die entscheidenden Punkte gewinnen muss. Wenn man diese Sportart selber nicht spielt, dann erkennt man die unglaubliche Ökonomie eines Roger Federers nicht.
Sie sind jetzt 50, haben Ihre Olympiade als End-40er gemacht. Spürten Sie da körperliche Grenzen?
Ja, man merkt ganz klar, wie der Mensch altert. Aber ich war immer einer, der körperliche Nachteile durch mentale Stärke ausgleicht.
Sportliche Leistung steht in unserer Kultur häufig im Gegensatz zu intellektueller. Sie verbinden die beiden selbstverständlich.
Da gibt es Vorbilder: Albert Camus war nicht nur ein aktiver Fussballspieler, sondern jedes Wochenende im Stadion. Warum soll man eine Tätigkeit wie Sport, die für Milliarden essenziell ist, literarisch ausklammern?
Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?
Ja, wobei für mich im Buch die Gesundheit nicht so relevant ist. Ich mache mich ein paar Mal lustig über Ratgeberliteratur.
Ein Ratgeber ist «Meine Olympiade» definitiv nicht. Als was verstehen Sie Ihr Werk?
Als Reportage und Essay – eine Mischung aus beidem.
Ihre erste olympische Erfahrung machten Sie als Flüchtlingskind 1972 bei den Wettkämpfen in München.
Meine Eltern waren Leistungssportler und haben mir das Interesse mitgegeben. Mein Vater hatte die Olympischen Spiele 1968 fürs bulgarische Fernsehen moderiert.
Der Vater war Hürdenläufer, die Mutter Volleyballspielerin. In Ihrer Familie steht Einzelkampf gegen Mannschaftssport. Was liegt Ihnen näher?
Eindeutig Einzelsportarten. Wenn einer beim Fussball den Ball nicht abgibt, obwohl ein Mitspieler frei steht, macht mich das rasend.
Bei Ihrem Buchprojekt mussten Sie auf Mannschaftssportarten verzichten. Das war also kein grosser Verlust.Absolut nicht.
Was faszinierte den siebenjährigen Ilija bei den Olympischen Spielen in München am meisten?
Als Kind faszinierte mich diese Euphorie und Energie.
Ist die Euphorie heute noch an Olympischen Spielen zu spüren?
Das hängt stark davon ab, wo die Spiele stattfinden. Die Australier und Engländer sind sportbegeisterte Nationen. In Brasilien sind ein Grossteil der Sportarten völlig unbekannt. Es ist schwer vorstellbar, dass der normale Brasilianer, der momentan enorm viele politische und ökonomische Probleme hat, euphorisch den Trampolinsprüngen zusieht.
Werden Sie im August nach Rio de Janeiro reisen?
Nein, im Moment finde ich das Ganze nicht sehr sympathisch.
Werden Sie die Wettkämpfe am Fernsehen verfolgen?
Ich nehme mir alle vier Jahre vor, das nicht zu machen, und schaue dann mehr, als ich will.
Für welche Nation schlägt Ihr Herz? Sie sind gebürtiger Bulgare, wuchsen in Kenia auf und lebten lange in Südafrika, Deutschland und jetzt in Österreich.
Ich bin für die Bulgaren, Kenianer, Deutschen, Österreicher und manchmal für die Schweizer, denn meine Tochter ist ja Schweizerin. Ich gewinne als Zuschauer am meisten Goldmedaillen.
Ilija Trojanow, «Meine Olympiade – ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen», S.-Fischer-Verlag, 336 Seiten, 22 Franken.