Schrifsteller Thomas Meyer verlor sein Zuhause
So erlebte ich mein Inferno!

Schriftsteller Thomas Meyer (43) deponierte sein Gemüse auf dem Herd. Warum er dadurch sein Zuhause verlor. Wie der Schicksalsschlag sein Leben veränderte.
Publiziert: 18.03.2017 um 14:40 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 23:57 Uhr
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Handybild von Thomas Meyer, als er mit seinem Sohn vor dem Wohnhaus auf die Feuerwehr wartet.
Foto: Thomas Meyer
Thomas Meyer

Viele Jahre lang habe ich meinen Glaskeramikherd als temporäre Ablagefläche benutzt. Ich stapelte jeweils nach dem Einkaufen darauf Pasta, Obst, Gemüse und anderes – und räumte die Sachen dann später weg. Manchmal blieben sie auch ein, zwei Tage dort liegen, während ich die vorderen, freien Kochzonen benutzte. Nie passierte etwas. Bis zu jenem lauen Sommerabend.

Ich war am Nachmittag einkaufen gewesen und hatte das Gemüse in einen Stoffbeutel gepackt, den ich extra für diesen Zweck angeschafft hatte, um weniger Plastikabfall zu generieren. Nachdem ich zu Hause angekommen war, parkierte ich meine Einkäufe wie so oft auf dem hinteren Bereich des Herds. Später bereitete ich auf der einen vorderen Kochzone zuerst mein Abendessen zu und wärmte dann die Milch für meinen damals dreijährigen Sohn. Nachdem ich ihm sein Fläschchen gegeben hatte, suchte ich mit ihm das Bad auf, um ihm die Zähne zu putzen – ein Vorgang, der bei einem Kind in diesem Alter durchaus eine Viertelstunde in Anspruch nehmen kann.

Das Feuer vertrieb meine Coolness

Nach etwa sieben Minuten, wir waren endlich bei der unteren Zahnreihe angelangt, nahm ich aus der Küche ein knackendes Geräusch wahr. Es klang wie gestapeltes Geschirr, das im Spülbecken verrutscht war, und ich schenkte der Angelegenheit keine weitere Beachtung. Doch kurz darauf knackte es erneut, gefolgt von einer Art Knistern. Ich beschloss, nachzusehen und fand auf meinem Herd ein munteres, etwa tellergrosses Feuerchen vor, das schon ordentlich qualmte.

Nun kenne ich mich als besonnenen, überlegten Menschen. Wenn andere die Nerven verlieren, behalte ich meine noch eine ganze Weile. Hätten Sie mich bis zu diesem Zeitpunkt gefragt, was bei einem kleinen Brand in der Küche zu tun sei, hätte ich Ihnen vermutlich in aller Coolness die richtige Antwort gegeben: Menschen in Sicherheit bringen, Fenster schliessen, Feuer ersticken. Aber meine Coolness war weg. Das Feuer hatte sie auf einen Schlag vertrieben.

Ich beschloss, dass das, was da brannte – ich hatte keine Ahnung, was es war, erst später erfuhr ich, dass der Stoffbeutel durch die Hitze der benachbarten Kochzonen zu glimmen begonnen hatte –, nicht stärker brennen konnte, als es bereits brannte. Und dass folglich der Rauch das drängende Problem war. Also öffnete ich das Küchenfenster, eilte zu meinem Sohn, schloss zu seinem Schutz die Badezimmertür und hastete zurück in die Küche, um mich dem Feuer zu widmen.

Der Brandherd: Ein darauf deponierter Stoffbeutel begann zu glimmen.

Dieses freute sich sehr über die Zufuhr von Frischluft und war in den wenigen Sekunden seit meinem letzten Besuch zu doppelter Grösse gewachsen. Es prasselte auch nicht mehr, sondern fauchte nun ziemlich böse, während es sich zielstrebig zum Dampfabzug hochzüngelte. Der Qualm füllte bereits die halbe Wohnung und waberte in ekelhaften dichtschwarzen Schwaden an der Decke herum. Doch anstatt nun mit meinem Kopfkissen oder einem Teppich das Feuer zu ersticken, rannte ich, weil ich das als wichtiger empfand, ins Bad, packte meinen Sohn, stellte ihn ins Treppenhaus und sprang zurück in die Küche.

Nun war definitiv nichts mehr zu machen. Das Feuer brüllte, war schon einen Meter hoch und verzehrte gerade die Türen der Küchenschränke. Fassungslos starrte ich einen Moment in mein persönliches kleines Inferno, griff dann nach meinem Handy auf dem Tisch, das ich im Rauch kaum mehr erkennen konnte, schloss die Wohnungstür, nahm meinen Sohn auf den Arm und trat ohne Schuhe ins Freie, um die Feuerwehr zu rufen. Die stellte viele Fragen, unter anderem nach der Anzahl Wohneinheiten im Haus. Ich konnte nicht mehr zählen. Aus meiner Küche heraus leuchtete es in hübschen Farben.

Schon nach fünf Minuten traf die Feuerwehr ein.

Keine fünf Minuten später traf die Feuerwehr ein, was mein Sohn freudig begrüsste, und donnerte von aussen einen dicken Wasserstrahl durch das mittlerweile zerborstene Küchenfenster. «Na toll», dachte ich, der ich immer noch glaubte, die Sache irgendwie im Griff zu haben, «jetzt muss ich nicht nur lüften, sondern auch noch den Boden aufnehmen!» Kurz darauf erschienen auch Polizei und Sanität, und als ich mich von Uniformierten umringt sah, die mich mit Fragen löcherten, nach meinem Befinden und anderen Bewohnern, wurde mir klar, dass diese Angelegenheit möglicherweise etwas grössere Ausmasse hatte, als ich dachte. 

Nachdem Feuerwehr und Sanität abgezogen waren, kam der eine Polizeibeamte zu mir und meinte: «Sie können jetzt rein und ein paar Sachen für die nächsten Tage mitnehmen.» «Wie, für die nächsten paar Tage», fragte ich, «kann ich nicht nach Hause?» Ich bekam keine Antwort, nur einen mitfühlenden Blick; wie jemand, der sich nach dem Zustand seines offensichtlich überfahrenen Hundes erkundigt. Der Polizist ging voraus und betrat das, was wenige Minuten zuvor noch mein Zuhause gewesen war, nun aber eher dem glich, was die russische Luftwaffe in Aleppo angerichtet hat: Meine Küche war vollkommen zerstört und der Rest der Wohnung von einer dicken Russschicht überzogen. Es stank erbärmlich.

Alles verkohlt. Nach dem Brand zog Thomas Meyer vorübergehend ins Hotel.
Foto: Joseph Khakshouri

Ich packte etwas Unterwäsche, ein paar Kleider in eine Ikea-Tasche, zog endlich Schuhe an, steckte meinen Autoschlüssel ein und stand mit meinem aufgeregten Sohn an der Hand ratlos vor dem Haus. Ich rief seine Mutter an und erzählte ihr, was passiert war. Sie glaubte, ich mache einen Scherz; offenbar mache ich gern Scherze in diese Richtung. Erst als ich im russverschmierten Hemd und unserem leicht verstörten Kind auf dem Arm vor ihrer Tür stand und um Asyl bat, glaubte sie mir.

Ich war jetzt ein Flüchtling. Einer, der vom einen Tag auf den nächsten kein Zuhause mehr hat. Einer, der nicht weiss, wo er die nächste Nacht verbringt. Einer, der nicht weiss, wo sein Weg ihn hinführen wird. Einer, der von fremder Hilfe und Güte abhängig ist. Natürlich ist es etwas völlig anderes, bombardiert zu werden und zu erleben, wie Familie und Nachbarn in Stücke gerissen werden, verglichen mit einem kleinen Küchenbrand ohne Personenschaden. Aber dieses Erlebnis vermittelte mir einen soliden Eindruck dessen, was Menschen anderswo auf der Welt durchmachen.

Hab und Gut in einer Ikea-Tasche

Meine Exfreundin zeigte sich mässig begeistert darüber, wieder mit mir zusammenzuleben, und auch ich fand es nur bedingt ideal. Meine Eltern boten mir an, bei ihnen zu wohnen, ebenso einige Freunde, aber ich schlug alle Angebote aus und ging mit meiner Ikea-Tasche ins Hotel. Ich war genug beschäftigt damit, diese Erfahrung zu verarbeiten, und hatte keine Kapazität, mich mit anderen Menschen in deren Privaträumen zu arrangieren.

Einen Vorteil hatte dieser Vorfall allerdings: Mit den Handyfotos meiner zerstörten Küche konnte ich endlich das Herz der Frau erweichen, die ich schon seit Wochen auf Facebook zu animieren versucht hatte, mit mir etwas trinken zu gehen. Ich holte bei mir zu Hause, falls man dem noch so sagen konnte, die besten Kleider, die ich finden konnte, was in diesem Moment auch bedeutete: jene, die am wenigsten stark rochen.

Es wurde ein toller Abend. Nicht zuletzt, weil ich endlich Gelegenheit fand, zu feiern, dass meinem Sohn und mir nichts Schlimmeres passiert war.

Nachdem eine Sanierungsfirma meine Wohnung ausgeräumt hatte, um die Sachen professionell zu reinigen, beschloss ich, nach einer neuen Bleibe zu suchen. Ich wusste, ich würde an diesem Ort nie wieder ruhig schlafen können. Mein Sohn sah es anders, er wollte wieder in sein Kinderzimmer zu seinen Spielsachen zurück und sah nicht ein, warum deren Reinigung länger als die fünf Minuten in Anspruch nahm, die vergangen waren, seit er das letzte Mal gefragt hatte. Mit Papa im Hotel zu wohnen, fand er allerdings auch nicht ohne. Wir nutzten die Gelegenheit für ein paar Tage Ferien im Engadin.

Währenddessen machten sich im Nahen Osten Hunderttausende auf, vor den Bomben zu flüchten. Immer wieder dachte ich an diese Menschen, die ebenfalls ein zerstörtes Zuhause hinter sich gelassen haben und die sich wohl die Finger abgeleckt hätten, mit mir zu tauschen, der ich über kurz oder lang wieder in geordneten, vergleichsweise luxuriösen Verhältnissen leben würde. Viele von ihnen hatten Eltern, Kinder, Schwestern und Brüder verloren, mussten sich skrupellosen Schleppern anvertrauen, eine strapaziöse Reise auf sich nehmen und in Ländern um Aufnahme bitten, in denen sie keiner haben wollte. Bloss weil sie das Pech hatten, in einem Land zu leben, das von einem durchgeknallten Idioten regiert wird und in dem eine Reihe von anderen durchgeknallten Idioten bis heute ihre Machtansprüche durchzusetzen versuchen.

Neue Liebe dank zerstörter Wohnung

Es wurde Herbst. Die Flüchtlinge steckten auf dem Balkan fest. Die Frau, die ich im verrussten Jackett kennengelernt hatte und die mittlerweile meine Freundin geworden war, machte mich auf Schweizer Hilfsprojekte aufmerksam. Sie wollte auch etwas tun. «Man kann doch nicht nicht helfen», meinte sie, und ich gab ihr recht. Wir gingen gemeinsam erst nach Kroatien, dann auf die griechische Insel Lesbos, und lernten Hunderte von freundlichen, liebevollen und vor allem völlig normalen Menschen kennen, die nicht mehr besassen als das, was sie am Leibe trugen – was mich an mich selbst erinnerte. Es herrschte eine höfliche, respektvolle Atmosphäre. Meine Freundin wurde von keinem Mann blöd angemacht. Man war dankbar, am Leben zu sein.

Wir kamen wieder nach Hause. Hier hatten die Leute ihre üblichen Sorgen: die unfähige Kommunikationsfirma, der Chef mit seiner miesen Laune, der Hochnebel, Beziehungsknatsch. Alles ärgerlich, keine Frage, aber auch keine echten Probleme. Es wurden dennoch welche draus gemacht; mit lautem Klagen und schwerer Empörung – exakt jenen Regungen also, die eigentlich denen zustehen würden, die tatsächlich Grund dafür haben, aber dann trotzdem lachend in klatschnassen Kleidern an griechischen Stränden stehen. Es war eine verkehrte Welt, und ich hatte Mühe, mich darin wieder einzuordnen.

Richtig gelungen ist es mir bis heute nicht. Bis heute empört und verstört es mich, wenn Menschen, die ein Zuhause haben, in dem sauberes Wasser fliesst, die gesund sind und gesunde Kinder haben und die in einem sicheren Land leben, so tun, als sei ihr Leben ein Albtraum. Mein Verständnis für das Drama ist sehr klein geworden. Weil ich echte Probleme gesehen habe. Weil ich gesehen habe, dass es Menschen gibt, gegen deren Schicksal ein Wohnungsbrand eine deutliche Aufwertung darstellen würde. Und zwar vor allem, weil es ein Wohnungsbrand in der Schweiz ist.

Eine zerstörte Schweizer Küche stellt also für zahllose Menschen etwas Erstrebenswertes dar. Das irritiert mich zutiefst.

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