Er hatte nichts zu sagen. Zwar wollte Bas Kast schon im Teenageralter einen Roman schreiben, aber er wusste nicht worüber. «Jetzt, mit 47, also 30 Jahre nach meinen ersten Versuchen, hatte ich erstmals das Gefühl: Da ist etwas, was ich sagen will», sagt Bas Kast heute.
«Das Buch eines Sommers», der erste Roman des deutsch-niederländischen Autors, kommt am kommenden Mittwoch in den Buchhandel. «Werde, der du bist», heisst er im Untertitel und handelt vom Ich-Erzähler Nicolas Weynbach, der nach dem Tod seines schreibenden Onkels Valentin seine Selbstbestimmung findet und in dessen Fussstapfen tritt. Endlich selber Schriftsteller werden!
Der Roman-Debütant Bas Kast ist keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Der Biologe und Psychologe – unter anderem studierte er beim Künstliche-Intelligenz-Forscher Marvin Minsky (1927–2016) am MIT in Boston (USA) – beginnt um die Jahrtausendwende als Wissenschaftsjournalist zu schreiben, für die Magazine «Geo», «Nature» und den Berliner «Tagesspiegel».
Millionenseller «Der Ernährungskompass»
«Revolution im Kopf – die Zukunft des Gehirns» heisst seine erste Sachbuch-Veröffentlichung von 2003. Es folgen populärwissenschaftliche Publikationen zu Gefühl und Einfühlungsvermögen: «Die Liebe und wie sich Leidenschaft erklärt» (2004) und «Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft – die Kraft der Intuition» (2009). Der Verlag legte Bas Kast in der Schublade für Psycho-Ratgeber ab.
Dann mit Anfang 40 der Stich ins Herz: Kast muss beim Joggen innehalten, schnappt nach Luft. Ein Alarmsignal, er zieht die Notbremse und stellt seine Ernährung radikal um. Nahm er bis dahin Schokolade zum Frühstück und verdrückte abends eine Tüte Chips, verzichtet er fortan auf Industriefood. Nach wenigen Wochen fühlt er sich schon viel besser.
Kast will über seine Erleuchtung ein Buch schreiben. «Das können Sie vielleicht schreiben, wir können es nicht verkaufen», teilt ihm sein damaliger Verlag mit. Kast sucht für seine Idee deshalb einen anderen Herausgeber. Auch dort hält sich der Enthusiasmus in Grenzen, geht man doch lediglich mit 7000 Exemplaren an den Start – innert Kürze ist die Erstauflage vergriffen.
«Der Ernährungskompass» ist heute ein Millionenseller, Bas Kast ein TV-Star. Seit seinem Erscheinungsdatum im März 2018 rangiert das Sachbuch ständig in den Top 10 der «Spiegel»-Bestsellerliste – nunmehr seit mehr als 130 Wochen, davon 41 Mal auf Platz 1! Nicht einmal der Weltbestseller «Becoming» der ehemaligen US-First-Lady Michelle Obama (56) bringt es auf diesen Traumwert (bald hundert Wochen ohne Unterbruch in der «Spiegel»-Bestsellerliste).
Fiktion statt Fakten
Auch in der Schweiz ist «Der Ernährungskompass» ein Spitzentitel. Der Untertitel «Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung» klingt denn auch verheissungsvoll. Und in unklaren Zeiten wie heute ist eine Orientierungshilfe besonders gefragt. Bereits hat es ein neues Buch mit dem nachgeahmten Titel «Mein Familienkompass» ebenfalls in die Verkaufshitparade geschafft.
Und nun also erstmals Fiktion anstatt Fakten: Warum verlässt Kast den Erfolgspfad? «Marketingtechnisch und finanziell wäre es wahrscheinlich vernünftiger gewesen, den ‹Fitnesskompass› zu schreiben», sagt er. «Das hat mich aber leider nicht gereizt.» Stattdessen begann der Vater von drei kleinen Knaben mit den Recherchen zu einem Buch, das vielleicht ein «Erziehungskompass» hätte werden können.
«Aber mir war nicht wohl dabei», sagt Kast. «Die empirische Faktenlage zur Frage ‹Wie sieht eine gute Erziehung aus?› war mir zu dünn.» So ging er in sich und fragte, worauf es ihm in der Erziehung ankommt. Und letztlich führte ihn das zur Frage, worauf es in der Entwicklung eines Menschen und damit im Leben überhaupt ankommt. «Ich fragte mich: Wenn es eins gäbe, das ich mir für meine Söhne wünschen würde, was wäre das denn?», sagt Kast. Als Antwort kam er auf das «Werde, der du bist».
Wie weiss ich denn, wer ich bin? «Ich glaube, es gibt in uns ein genetisches Programm, das zur Entfaltung drängt», sagt Kast. «Jeder von uns hat ganz bestimmte Talente, die zum Vorschein kommen wollen.» Er geht dabei von einem positiven Menschenbild aus: «Die meisten Menschen sind im Kern gut.» Und wenn sie sich verwirklichen können, werden sie grundsätzlich eher Gutes als Schlechtes tun. «Was wäre aus Hitler geworden, hätte die Kunstakademie ihn nicht abgelehnt?», fragt sich Kast.
Esoterisch angehauchte Wohlfühlliteratur
Nicolas Weynbach, die Hauptfigur aus dem Roman «Das Buch eines Sommers», findet sein Talent – wie gesagt – im Schreiben. Doch zuvor schlägt er sich gestresst und gereizt in der vom Vater geerbten Firma Weynbach Pharmaceuticals mit dem Methusalem-Projekt herum, einer Pille, die den Alterungsprozess aufhalten soll. «Sie sind so rastlos, eben weil sie das Glück nicht finden», heisst es einmal im Buch. «Weil sie es an den falschen Stellen suchen.»
Ja, wie findet man denn den Weg zum Glück? Es gibt vermutlich sehr viele unterschiedliche, auch Umwege können dazugehören», sagt Kast. Aber irgendwann merke man, dass man genau dort sei, wo man sein möchte. Ein Kennzeichen dafür sei, wenn sich die Tätigkeit nicht nur nach Arbeit anfühle. «Dass sie einen nicht einfach nur auslaugt, sondern – eher umgekehrt – energetisiert», so Kast.
«Das Buch eines Sommers» klingt ein wenig nach der esoterisch angehauchten Wohlfühlliteratur der französischen Autoren François Lelord (67, «Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück»), Eric-Emmanuel Schmitt (60, «Oscar und die Dame in Rosa») oder Frédéric Lenoir (58, «Die Seele der Welt»). Er habe nie etwas von den Herren gelesen, kenne sie nicht, sagt Kast. «Es ist ja auch schwierig für Menschen, die mich nicht kennen, sich wirklich ein Bild von mir zu machen», sagt er weiter. «Sie sehen halt einige Texte von mir und schliessen daraufhin auf meine Person. Das ist halt so.»
Kast, Sohn eines deutschen Vaters und einer niederländischen Mutter, lebt heute mit seiner Frau, der Zellbiologin Sina Bartfeld, und den drei gemeinsamen Kindern in Rottendorf bei Würzburg (D). Valerie, die Frau von Nicolas Weynbach im Roman, ist auch Forscherin. «Valerie ist natürlich nicht eins zu eins meine Frau, aber klar hatte ich sie oft vor Augen, ebenso meinen ältesten Sohn bei der Julian-Figur», sagt Kast. «Ohne ihn hätte ich das Buch nicht schreiben können.» Vieles sei autobiografisch im Roman, jedes Gefühl durchlebt.
Egoistische Selbstverwirklichung oder soziale Verantwortung?
«Das Buch eines Sommers» erscheint am Ende eines speziellen Sommers, der von Corona geprägt war. «Alle zusammen in einem Haus, 24 Stunden am Tag – das war schon sehr intensiv», sagt Kast rückblickend. Wir seien ja ständig hektisch. Ständig nervös. Ängstlich, etwas da draussen in der Welt zu verpassen. Und er entwirft das Vor-Corona-Bild eines vollen Fussballstadions, in dem alle Zuschauer sitzen, um das Spiel zu verfolgen.
Plötzlich stehe einer auf, um sich eine etwas bessere Sicht zu verschaffen. Nun werde der Nachbar hinter ihm dazu genötigt, ebenfalls aufzustehen, einfach nur, um weiterhin das Spiel sehen zu können – am Ende stünden alle, ohne wirklich besser dazustehen. «So ist das Leben», sagt Kast. «Während des Corona-Lockdowns kam es mir vor, als hätten wir uns alle für eine gewisse Zeit hingesetzt.»
Für Bas Kast war das die Gelegenheit, in sich zu gehen und sich zu fragen, ob man das Leben – das jetzt zu einer Art Stillstand gekommen ist – so weiterleben möchte. «Werde, der du bist»: Wann, wenn nicht jetzt? Aber ist egoistische Selbstoptimierung in der Corona-Krise überhaupt angesagt? Ginge es jetzt nicht vielmehr um soziale Verantwortung?
Kast wehrt sich dagegen, das eine gegen das andere auszuspielen: «Was haben wir davon, was hat die Gesellschaft davon, wenn jemand nicht zu seinem eigentlichen Ich findet? Wird so ein Mensch sozial verantwortlich?» Er sei sicherlich sehr privilegiert, aber sein «Ernährungskompass» zum Beispiel habe vielen Menschen geholfen, ihre Ernährung umzustellen – «zum Besseren, würde ich sagen».
Bas Kast, «Das Buch eines Sommers», Diogenes; der Roman erscheint am 23. September