Reise-Psychologin Martina Zschocke (52) kennt das Rezept für gelungene Ferien
Warum nicht jeder Urlaub gesund ist

Reiseforscherin Martina Zschocke erklärt, was das Rezept für unvergessliche Ferien ist, weshalb man sich nicht auf Vorrat erholen kann und wieso mehrere kürzere Reisen besser sind.
Publiziert: 07.08.2022 um 12:25 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2023 um 12:50 Uhr
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Martina Zschocke (52) ist Professorin für Freizeitsoziologie und Freizeitpsychologie an der Hochschule Zittau/Görlitz (D).
Foto: Ingmar Björn Nolting/laif
Interview: Lea Ernst

Frau Zschocke, sind Sie schon in Ferienstimmung?
Martina Zschocke: Naja, nicht wirklich. Ich fahre zwar nächste Woche weg, aber vorher gibt es noch viel zu tun. So ist es doch meist.

Wohin gehts denn?
Mit dem Zug nach Grossbritannien mit London, der Küste und wandern im Lake District.
Mit ein paar Tagen Paris auf dem Hinweg und einem Stopp in Brüssel auf dem
Heimweg. Insgesamt sind wir dreieinhalb Wochen unterwegs.

Klingt schön! Da lohnt es sich ja, noch etwas auf die Zähne zu beissen.
Ist wegfahren besser als zu Hause bleiben?
Definitiv. Zu Hause kann man sich zwar durchaus erholen, wenn der Alltagsstress wegfällt. Aber damit sich die anderen positiven Effekte des Reisens einstellen, braucht es einen Kontextwechsel. Das muss nicht unbedingt eine Fernreise sein – Ferien im nahen Europa oder nur schon 50 Kilometer von der eigenen Haustür entfernt reichen aus.

Zur Person

Martina Zschocke (52) ist seit 2010 Professorin für Freizeitsoziologie und Freizeitpsychologie an der Hochschule Zittau/Görlitz (D). Die Schwerpunkte ihrer Forschung sind Reisepsychologie, die psychischen Komponenten von Auslandsaufenthalten und Kreativität und Kontextwechsel. Zschocke studierte in Leipzig (D), den USA sowie den Niederlanden und lebte und arbeitete mehrere Jahre in Prag und Brüssel. Sie veröffentlichte bisher drei Bücher und mehrere Artikel.

Martina Zschocke (52) ist seit 2010 Professorin für Freizeitsoziologie und Freizeitpsychologie an der Hochschule Zittau/Görlitz (D). Die Schwerpunkte ihrer Forschung sind Reisepsychologie, die psychischen Komponenten von Auslandsaufenthalten und Kreativität und Kontextwechsel. Zschocke studierte in Leipzig (D), den USA sowie den Niederlanden und lebte und arbeitete mehrere Jahre in Prag und Brüssel. Sie veröffentlichte bisher drei Bücher und mehrere Artikel.

Sie untersuchen die Wirkung von Freizeit auf den Menschen wissenschaftlich. Was machen Ferien mit uns?
Einerseits steigern sie die Intensität und Lebendigkeit. Es ist so, dass wir uns generell sehr schnell an unsere Umgebung anpassen. Im Alltag lösen die gleichbleibenden Reize kaum noch Nervenimpulse aus: Wir nehmen die gewohnte Umgebung nicht mehr wirklich und nicht mehr mit allen Sinnen wahr. Dazu kommt, dass wir in der durchdigitalisierten Gesellschaft sowieso fast nur noch den Sehsinn brauchen. Die anderen Sinne, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, werden viel weniger verwendet.

Bis wir verreisen.
Genau. Ferien sind die Möglichkeit zur Rehabilitation der Sinne. Sie stellen das
Gleichgewicht wieder her. Die neue Umgebung zwingt uns dazu, uns analog mit allen Sinnen neu zu orientieren. Unsere Wahrnehmung schärft sich, wir nehmen alles viel intensiver und sinnlicher wahr. In den Ferien haben wir Zeit, uns voll und ganz auf die neue Situation zu konzentrieren. Bei Dingen, die wir das erste Mal tun ist unser Gehirn hellwach, je vertrauter etwas ist, desto weniger wird es aktiv. Wenn die Adaptation einsetzt, lässt die Aufmerksamkeit nach. Vorhersagbarkeit ist in gewissem Masse beruhigend und nützlich, zu viel davon lässt aber abstumpfen. Je fremder die Kultur oder die Umgebung, desto mehr Sinne werden genutzt. Welche das vorrangig sind, hängt von der jeweiligen Kultur ab. Anderes Licht, andere Farbe, andere kulinarische Erfahrungen, Sand unter den Füssen, feuchte Luft, Geruch nach Meer oder Gewürzen. Ferien können ausserdem einen antidepressiven Effekt haben.

Antidepressiv? Inwiefern?
Die Gedanken eines depressiven Menschen kreisen oft um ihn selber, man grübelt. Ferien zwingen einen dazu, sich wieder nach aussen zu orientieren. Das gilt natürlich hauptsächlich für moderate bis mittlere Schweregrade, nicht für jemanden mit einer schweren Depression. Der Tapetenwechsel sorgt für Abstand zum Alltag, für Aktivierung, die Kanäle öffnen sich, die Sinne und die Lebendigkeit erwachen. Kommt dann noch mehr Licht und Bewegung dazu, ist der Effekt sehr positiv, wie die neurowissenschaftliche Forschung bestätigt.

Viel Positives – kommen wir zum Negativen.
Es gibt auch einen Druck zum Reisen, auch durch die Vergleiche über Social Media.
Jeder sollte das machen, was ihm guttut und ob das zum aktuellen Zeitpunkt eine Reise ist, ist dabei offen. Auch den Nachhaltigkeitsgedanken sollte man nicht ganz ausblenden. Kreuzfahrtschiffe sind in vielen Fällen weder ökologisch, noch sozial nachhaltig. Sie gehören mit zu den grössten Umweltsünden und die Arbeitsbedingungen sind vielfach mehr als fragwürdig. Da sie oft unter fremden Flaggen fahren, müssen sich die Betreiber an keine Arbeitsgesetze
halten.

Kann man zu viel reisen?
Ja, sowohl im persönlichen als auch im allgemeinen Rahmen. Viele Städte, die unter zu viel Tourismus litten, wie zum Beispiel Venedig, haben erst in der Pandemie ihren
ursprünglichen Charme zurück erhalten. Diese Städte
versuchen jetzt, den Zustrom stärker zu regulieren.

Und im persönlichen Rahmen?
Unser Gehirn braucht Stimulation, aber in Massen. Hier gilt nicht: «viel hilft viel».
Grundsätzlich können die positiven Wirkungen natürlich auch in ihr Gegenteil umschlagen
je nach Disposition und aktuellem Zustand. Bei Schizophrenien und Epilepsien ist Reisen zum Beispiel deutlich riskanter, da durch die Reizüberflutung neue Schübe ausgelöst werden können. Insbesondere, wenn dann noch Schlafmangel dazukommt. Auch für die Erinnerung ist eine hohe Erlebnisintensität bei mittlerer Erlebnisdichte am besten. Daran werden sie am längsten erinnern.

Kann man zu viel reisen?
Ja, sowohl persönlich als auch allgemein. Viele Städte, die unter Massentourismus litten, wie zum Beispiel Venedig, haben erst in der Pandemie ihren ursprünglichen Charme zurückerhalten. Diese Städte versuchen nun, den Besucherstrom stärker zu regulieren.

Und persönlich?
Unser Gehirn braucht Stimulation, aber in Massen. Hier gilt «Viel hilft viel» nicht. Die positiven Wirkungen können je nach aktueller Verfassung auch in ihr Gegenteil umschlagen. Bei Schizophrenie und Epilepsie ist das Reisen ausserdem deutlich riskanter, da durch die Reizüberflutung neue Schübe ausgelöst werden können.

Was waren Ihre bisher schönsten Ferien?
Da kommen mir zwei in den Sinn. Erstens eine Reise durch Kuba. Sie war so schön, weil wir viele Einheimische kennengelernt und bei ihnen übernachtet haben. Ich habe gelernt, auf dem Saxofon kubanische Musik zu spielen, wir haben Salsa getanzt, Schach gespielt und Mojito getrunken. Wir fuhren durchs Land, waren sehr dicht dran am Land und seinen Menschen. Das war beeindruckend.

Danke, jetzt habe ich riesige Lust, nach Kuba zu fahren. Und Ihre zweite Lieblingsreise?
Die war durch Argentinien. Tangotanzen in Buenos Aires, ein Konzert alter Sängerinnen und Sänger in der Garage eines abgelegenen Viertels. Die Menschen haben sich total gefreut, dass wir da waren. Wir haben einerseits die Kultur kennengelernt, waren danach aber auch noch wandern in den Bergen und haben Lamas gesehen, wunderschön. Es war von allem etwas dabei.

Die Abwechslung und spontanen Begegnungen stechen heraus. Sind sie das Rezept für gelungene Ferien?
Das lässt sich nicht per se sagen. Am wichtigsten ist, dass man in den Ferien die Bedürfnisse erfüllt, die man gerade hat. Diese hängen stark davon ab, wie der eigene Alltag gerade aussieht. Man muss sich überlegen: Was hat in meinem Alltag zu wenig Raum, das ich in den Ferien ausgleichen will? Die eigenen Bedürfnisse zu kennen, ist ein Hauptfaktor für eine gelungene Reise. Doch auch der Faktor Vielschichtigkeit wurde bei meiner Forschung zu gelungenen Reisen immer wieder genannt. Also eine Kombination von Stadt und Land, Bergen und Meer oder Natur und Kultur.

Was braucht es sonst noch für eine gelungene Reise?
Der Kontakt mit Einheimischen, eine gute Routenwahl oder wenn möglich auch, dass es eine neue Erfahrung ist. Also nicht ein Ort, den man bereits in- und auswendig kennt. Schon ein bis zwei dieser Faktoren können für eine gelungene Reise bereits ausreichen.

Sind Abenteuerferien in unserem hektischen Alltag überhaupt sinnvoll? Oder wären zwei Wochen Strandferien all-inclusive besser?
Das hängt vom eigenen Alltag ab und davon, welcher Persönlichkeitstyp man ist. Einen sogenannten Sensation Seeker, also einen Typ Mensch, der viele neue Inputs und Erlebnisse braucht, werden zwei Wochen Strandferien in Grund und Boden langweilen. Ist man hingegen ein eher konservativer Typ, kann es auch ausreichen, jedes Jahr an denselben Strand zu fahren. Das ist auch komplett in Ordnung, doch werden klassische Strandferien häufig auch aus einem Irrtum heraus gebucht.

Der wäre?
Dass Erholung gleich Passivität und Nichtstun ist.

Was ist Erholung stattdessen?
Eine gute Balance zwischen Entspannung und Anspannung. Natürlich braucht jemand mit hoher kognitiver Belastung und Informationsdichte im Job in den Ferien nachweislich nicht noch viel mehr Reize. Komplett auf null stellen sollte man jedoch trotzdem nicht. Sitzt man bei der Arbeit viel, ist Bewegung in der Natur eine gute Idee – zum Beispiel Wandern in den Bergen von Hütte zu Hütte oder eine Fahrradtour. Denn es ist bewiesen, dass moderate Bewegung mehr Stress abbaut als das Liegen am Strand.

Was tun, wenn man bereits so richtig gestresst in die Ferien startet?
Kein Problem, dann plant man zuerst ein paar Tage Erholung pur ein. Doch das sogenannte «Flow-Erleben» stellt sich viel eher ein, wenn wir unsere Komfortzone verlassen und etwas rausgehen. Das ist der Tätigkeitsrausch, bei dem man völlig in einer Sache oder Umgebung aufgeht und Raum und Zeit vergisst. Das ist der Punkt, an dem wir die höchste Endorphinausschüttung haben – unser Glückshormon. Man sollte dazu zwar einen gewissen Rhythmus sowie Anspannung und Entspannung haben, sich jedoch auch etwas herausfordern. Das findet man am ehesten im Wachstumsbereich, also genau dort, wo man sich weder über- noch unterfordert.

In den Ferien wird einem oft klar, was man in seinem Leben eigentlich will oder eben nicht mehr will. Wieso?
Einerseits durch den Abstand. Sind wir nicht mehr im Autopilot im Alltag unterwegs, fällt der Überblick viel leichter. Man sieht, was man macht, was man vielleicht lieber machen würde und was man ändern sollte.

Und andererseits?
Der Aufenthalt in anderen Kulturen und Umfeldern steigert die kognitive Flexibilität – unsere Kreativität wird gefördert. In den Ferien finden wir viel einfacher Lösungen für Probleme. Wir sehen Möglichkeiten, die wir im Alltag nicht erkennen.

Würden Sie sagen, dass wir in den Ferien unser wahres Ich sind?
Na, zumindest ist es nicht so verstellt wie im Alltag. In den Ferien fallen bei den meisten viele externe Ansprüche weg. Das englische Wort für Ferien, Holidays, kommt von «holy days»: heilige Tage, in denen man herausfinden kann, was einem wirklich etwas bedeutet. Durch Entdecken und Staunen. Man tut überwiegend das, was man möchte, lebt stärker im eigenen Rhythmus und erkennt dadurch viel klarer, wer man ist.

Wie lange sollten unsere Ferien denn optimalerweise dauern?
Früher dachte man, je länger, desto besser. Ein überraschender Befund aus der Ferienforschung besagt jedoch, dass die Erholung nach einer Woche nur noch marginal ansteigt. Hat man eine begrenzte Urlaubszeit, ist es also besser, mehrmals ein bis zwei Wochen wegzufahren, als alle Wochen am Stück zu nehmen.

Das ist beruhigend zu hören.
Etwas ganz anderes ist es natürlich, wenn sich jemand bereits in einem absoluten Erschöpfungszustand befindet. Bei einem Burnout sollte man mindestens zwei Monate lang Pause machen, sagt man. Auch wenn das Reiseziel weit entfernt ist, würde ich wegen des Jetlags und der Nachhaltigkeit raten, einmal hinzufliegen. Dafür länger.

Frau Zschocke, jetzt will ich in die Ferien.
Haben Sie bald welche?

Ende Monat.
Bis dahin können Sie sich auch mit sogenannten Mikro-Abenteuern etwas Ferienstimmung in den Alltag holen. Kleine Portionen Urlaub, die unser Ferien-Ich auch im Alltag lebendig halten. Indem man neue Wege geht, neue Dinge tut, in den Hitzenächten zum Beispiel einmal draussen schläft. Es braucht wenig, damit nicht jeder Tag gleich aussieht und man nicht im Alltagstrott versumpft.

Das gibt Hoffnung! Wie lange halten die positiven Effekte denn nach den Ferien an?
Im Normalfall nicht lange. Leider kann man sich nicht auf Vorrat erholen. Umso wichtiger, dass wir die Bedürfnisbefriedigung und die Balance zwischen Entspannung und Anspannung auch in unseren Alltag einbauen.

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