I will survive!» – Gloria Gaynors Welthit scheppert durch ein Vorort-Café am Rande von Santiago de Compostela in Spanien. «Ich werde überleben!», der Soundtrack passt: Hinter uns liegen 1000 Kilometer zu Fuss quer durch die iberische Halbinsel. Eine blasentreibende Schinderei. Bis zum Ziel sind es nur noch ein paar lächerliche Kilometer, aber anstatt uns zu freuen, sind wir traurig. Die letzten fünf Wochen waren zu schön; so könnte es weitergehen. Die Melancholie des Abschieds versüssen wir uns mit Chocolate con Churros, heisser Schokolade mit fettigem Spritzgebäck. Seelennahrung.
Via de la Plata: Der Silberweg von Sevilla bis Santiago de Compostela
Unterwegs sind wir auf der Jakobsweg-Variante Via de la Plata, dem Silberweg, von Sevilla in Andalusien zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela in Galicien, dem wichtigsten Pilgerziel der Christen neben Jerusalem und Rom. 1985 verlieh die Unesco der Stadt mit 100 000 Einwohnern daher den Titel Weltkulturerbe. Die Gebeine von Jakobus dem Älteren, einem der zwölf Apostel Jesu, sollen hier begraben liegen. Das ist historisch betrachtet zwar fragwürdig, tut der 1200-jährigen Tradition aber keinen Abbruch. So lange schon hoffen Pilger auf Wunderheilungen und die Vergebung der Sünden. Letztere gibt es immer noch – vorausgesetzt, man ist katholischen Glaubens.
Heute tummeln sich auf den Jakobswegen Wallfahrer, Sinnsucher und Aussteiger. 300 000 waren es 2017, die in Santiago ihr Heil suchten. Aber während sich 70 Prozent über den 800 Kilometer langen Hauptweg Camino Francés von den französischen Pyrenäen hierhin schleppen, sind Jakobswegvarianten wie die Via de la Plata kaum bekannt. Nur 8000 Hartgesottene suchten letztes Jahr authentische Pilgererfahrungen auf dem silbernen Weg.
Stau auf dem Jakobsweg: Sinnsucher, Powerwalker, E-Biker stehen Schlange auf dem alten Fussweg durch Nordspanien. Christian Bauer nahm den Umweg über Rom – und fand am Ende Sinn und Glück.
Stau auf dem Jakobsweg: Sinnsucher, Powerwalker, E-Biker stehen Schlange auf dem alten Fussweg durch Nordspanien. Christian Bauer nahm den Umweg über Rom – und fand am Ende Sinn und Glück.
1000 Kilometer, 40 Grad im Schatten, 32 Tage
Die Via de la Plata hat es in sich: 1000 Kilometer, 40 Grad im Schatten, 32 Tage. Knapp fünf Wochen täglich derselbe Ablauf: aufstehen, wandern, Zmorge, wandern, Zmittag, Siesta, wandern, Herberge suchen, Znacht, schlafen. Was langweilig klingt, ist Erholung pur. Keine Entscheidungen treffen, keine E-Mails checken, einfach loslaufen. Arbeits- und Karrierestress lösen sich im Nichts auf. Und das Glück ist manchmal nur ein schattiges Bäumchen oder ein Topf Nudeln. Alles, was man braucht, passt in den Rucksack. Das ist Freiheit!
Doch neben Romantik und Seelenmassage ist die Via de la Plata auch harte Knochenarbeit – besonders, wenn man im Hochsommer unterwegs ist.
Pilgern auf Via de la Plata mit Extrem-Temepraturen
In Andalusien und der Extremadura verdörrt dann das Land in der sengenden Hitze. Da leiden auch die schwarzen Pata-Negra-Schweine, die in grossen Herden im Schatten der Steineichen dösen, und die Kampfstiere, die uns argwöhnisch beäugen.
Das zusätzliche Schleppen von literweise Wasser im ohnehin schon schweren Rucksack geht an die Substanz. An manchen Tagen sind es mehr als 35 Kilometer bis zur nächsten Herberge. Mal ist dies eine frühere Schule oder ein Zimmer beim örtlichen Pfarrer, mal eine topmoderne Anlage, die mit EU-Geldern finanziert wurde. Wer sich gerne ins Mittelalter beamt, klopft bei einem Kloster an.
Was bedeutet Pilgern?
Pilgern? Was bringt das in einer Zeit, in der kaum einer an Wunder und göttliche Zeichen glauben mag? Pilgern bedeutet für uns: sich durchbeissen, die eigenen Grenzen ausdehnen. Und sich auch die Frage nach dem höheren Sinn stellen. Das bleibt auf dem Jakobsweg nicht aus.
Dennoch: Das Leben auf dem Pilgerweg entfaltet eine besondere Spielart des Glücks, die jenseits körperlicher Anstrengung liegt. Das kann süchtig machen – genauso wie Chocolate con Churros. Wir bestellen eine weitere Portion.
Nein, wir wollen nicht in der Kathedrale von Santiago ankommen. Denn danach kommt es wieder, das Burnout-gefährdete Leben. Aber der Jesus, den ich in Oseira erworben habe, grinst mich jeden Tag an, als wolle er sagen: «You will survive!»
Der Schnellzug durch Spaniens Weingebiete gelangt an seine Endstation. Castilla y Leon, Rioja Alavesa und Navarra heissen die letzten Destinationen. Es erwartet uns das Weingut eines spanischen Kino-Magnaten.
Der Schnellzug durch Spaniens Weingebiete gelangt an seine Endstation. Castilla y Leon, Rioja Alavesa und Navarra heissen die letzten Destinationen. Es erwartet uns das Weingut eines spanischen Kino-Magnaten.