Die Seele braucht drei Tage, bis sie an einem neuen Ort ankommt, heisst es. Drei Tage, in denen der Reisende noch am Alten hängt und das Neue fremd ist. In Norwegen ist es anders: Hier ist die Seele schon da, bevor man ankommt.
Das liegt an der Natur, an dieser grandiosen Seelen-Therapie-Natur. Und wenn dieses Land, dieses ineinandergeschlungene Land-Meer-Gemisch, in Zeitlupe am Hurtigruten-Schiff vorbeizieht, stellt sich die ultimative Gewissheit ein: Alles ist gut.
Norwegen – «Der Weg nach Norden»
Unterwegs von Bergen an der Westküste nach Kirkenes am Polarmeer, immer stur Richtung Norden. Es ginge auch umgekehrt, aber der Name des Landes gibt auf dieser Fahrt die Reiserichtung vor: Norwegen – «Der Weg nach Norden». Vom milden Süden zur lebensfeindlichen Polarregion: Das schmeckt nach Abenteuer.
Freilich führte 1893 nicht romantische Abenteuersehnsucht zur Gründung der Hurtigruten-Linie, sondern schlichte Notwendigkeit: Der Kontakt und Handel mit dem Norden über Land war zu zeitaufwändig und gefährlich. Die neuen Dampfschiffe verkürzten die Reisezeit enorm. Auch heute, 120 Jahre später, ist die Hurtigrute immer noch Fähre, Cargo-Schiff und Postauto in einem – und im Winter, wenn Strassen und Flughafenpisten vereist sind, für manche Ortschaften die einzige Nabelschnur zum Rest der Welt.
Die grösste Touristenattraktion des Landes
Im Sommer sind die legendären Schiffe aber vor allem eines: die grösste Touristenattraktion des Landes. Eine der Passagiere ist Evelyn. Die junge Thurgauerin hat norwegische Wurzeln und ist auf Entdeckungstour zu ihren Wurzeln. «Mit dem Schiff bekomme ich ein besseres Gefühl für das Land, für die Schönheit und dessen Dimensionen», begründet sie ihren Entscheid für die Schiffsreise. Etwas fehlt der sportlichen, jungen Frau auf dem Schiff allerdings: Action!
Die Schiffe sind keine Kreuzfahrtschiffe. Ausser einer kleinen Sauna und einem Whirlpool gibt es kaum Entertainment. Die einzige Unterhaltung an Bord ist die Landschaft, die in gemächlichem Tempo vorbeizieht. Und das Schiff ist ein Top-Logenplatz. Das ist grosses Kino.
Der Höhepunkt der Reise
Schon am zweiten Tag steht ein Höhepunkt auf dem Plan: die Fahrt in den 100 Kilometer langen Geirangerfjord. Wasserfälle stürzen in die Tiefe, 1000 Meter hohe Felswände ragen in den Himmel, bunte Farmen säumen das knappe Land am Ufer: Postkarten-Norwegen und Unesco-Weltnaturerbe. «Das ist der Hammer!» Auch Evelyn erliegt der fantastischen Gegend.
Schöpfer dieser Naturwunder waren die Gletscher der letzten Eiszeit. Gewaltige Eismassen raspelten, hobelten und scheuerten damals über das Land und formten markante U-förmige Fjord-Täler und hubbelige kleine Inseln. Als das Thermometer wieder auf angenehmere Temperaturen kletterte, eroberte sich das Meer die tiefen Einschnitte zurück. Und so greift das Meer in das Land hinein. Oder das Land in das Meer? So genau lässt sich das nicht sagen.
Der Svartisen-Gletscher
Ein Urzeit-Baumeister in Aktion begegnet uns später: Der Svartisen-Gletscher reicht fast bis ans Meer. Mit einem Boot kann man den gewaltigen Eismassen einen Besuch abstatten.
Täglich gibt es auf der Reise Exkursionen: Stadt- und Museumsbesichtigungen, Kulturveranstaltungen und Tierabenteuer – so wird es den Passagieren garantiert nicht langweilig.
Die Fahrt gen Norden hat eine magische Zahl: 66O33’51’’ – der Polarkreis. Danach ist nichts mehr wie vorher. Nördlich davon geht die Sonne im Sommer tagelang nicht unter. Dann legt sich ein milchig-magisches Licht über das Land, das Mensch und Natur wahre Hochgefühle bereitet. «Dann bist du total fit und wach und brauchst kaum Schlaf», sagt Robin aus Tromsø. Dann verwandelt die Sonne, die nur den Horizont streift, das weite Meer in einen riesigen Schmelzofen flüssigen Goldes – ein Wow-Effekt der Extraklasse.
Nach sieben Tagen, wenn die Reise in Kirkenes kurz vor der russischen Grenze endet, hat sich die Seele noch nicht sattgesehen an der Natur. Und wenn uns die Schlittenhunde mit ihren stahlblauen Augen anhimmeln, ist eh alles zu spät.
Dann bleibt die Seele da, und der Körper fliegt zurück.