Die Dämmerung liegt über dem Ranthambhore Tigerreservat wie ein goldener Sari. Im Abendlicht präsentiert ein Pfau seine Federpracht, Rehe grasen und Antilopen stolzieren durch die Weite. Ein Setting, perfekt für einen Bollywood-Herzschmerz-Film. Allerdings zu idyllisch für unsere Mission: Wir wollen einen Tiger vor die Linse bekommen.
«Es ist viel zu ruhig», enttäuscht uns Safari-Guide Nadeem. «Alle Tiere wären in heller Aufregung, würde ein Tiger durchs Unterholz streifen.» Aber irgendwo da draussen muss er sein, Tiger T8, den die Menschen hier «Ladli» getauft haben, liebende Tochter. Denn die Dämmerung ist T8s grosse Stunde: die beste Zeit für die Jagd.
Ladli ist einer von etwa 70 Grosskatzen im 300 Quadratkilometer grossen Nationalpark südlich der Stadt Jaipur - alle davon notorische Einzelgänger. Wir suchen die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Und dennoch ist das ehemalige Jagdrevier der Maharadschas von Jaipur mit seinen weiten Flächen, einer der besten Spots Indiens fürs Tiger-Spotting.
Mit dem Velo ins Getümmel von Delhi
Unterwegs sind wir von der Hauptstadt Delhi über den Nationalpark in die märchenhafte Stadt Jaipur im Bundesstaat Rajasthan, eine Region, die als «The Golden Triangle» bezeichnet wird, das goldene Dreieck. So genannt, weil hier auf relativ kleinem Raum, einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Landes versammelt sind: die Palastanlagen von Jaipur, der traumhaft-schöne Taj Mahal und die Altstadt von Delhi.
Letztere haben wir mit dem Velo erkundet - eine aberwitzige Idee, in einem Land ohne einen Meter Veloweg. Darum haben wir uns die Unterstützung eines Profis geholt: Jeswin von «Delhi by Cycle», die verschiedene Drahtesel-Touren durch die Hauptstadt anbieten. Zur Begrüssung hat der drahtige Sportler gleich mal die passende Überlebensregel parat: «Im indischen Strassenverkehr brauchen wir drei Dinge: eine gute Klingel, gute Bremsen und viel Glück.»
Jeswin hat gut Reden: Die Bremse leiert und die Klingel ist nur ein leises Wimmern in der Kakofonie aus Autohupen, Menschen-Gebrüll und Rikscha-Quietschen. Bleibt nur noch das Glück - und Ausweichmanöver so zackig wie Schwünge im Riesenslalom. Denn in den engen Gassen von Delhis Altstadt heisst es «Survival of the fittest», nur der Stärkste überlebt: Fahrradrikschas, Tuktuks, Lastenträger, Fussgänger, Motorräder und Ochsenkarren quetschen sich durch Strässchen nicht breiter als ein Trottoir - und jeder rast, als gehe es um sein Leben.
Doch die (Beinahe)-Zusammenstösse lohnen sich allemal. Denn in der vierstündigen Tour, die besonders für Indien-Anfänger zu empfehlen ist, bekommen wir einen Geschmack vom Herz der historischen Stadt: Den Gewürzmarkt, die Blumen-Girlande-Binder für die Opfergabe in den Tempeln, traditionelle Wohnblocks aus besseren Zeiten, Massala-Tee am Strassenrand und ein Gaissen-Curry im Arbeiterrestaurant - zum Zmorgen. Und als ob diese Eindrücke nicht schon psychedelisch genug wären, läuft mitten in der Stadt ein Elefant vorbei.
Im Reich der Tiger
Immerhin haben wir einen Elefanten gesehen, denn Ladli, die Königin des Dschungels, will sich auf unserer Safari im Ranthambhore Nationalpark immer noch nicht zeigen. Vor 100 Jahren wären die Chancen um ein vielfaches besser gewesen. Damals streiften etwa 100 000 Tiger durch den Subkontinent. Etwa 4000 sind es heute noch weltweit, davon etwas mehr als die Hälfte in Indien. Die Zahlen sind erschreckend. Aber es gibt Hoffnung für die Grosskatzen: Die Population wächst langsam.
Naturverbände wie der WWF und die indische Regierung unternehmen viel, um den verbliebenen Lebensraum der Tiger zu schützen. Das ist allerdings keine leichte Aufgabe, denn der Druck auf die 50 Reservate ist enorm. Momentan leben in Indien etwa 1,4 Milliarden Menschen - Tendenz steigend. Konflikte zwischen Mensch und Tiger sind da vorprogrammiert.
«Wird die Population in einem Reservat zu gross, sind die Tiere gezwungen, in besiedelte Gebiete auszuweichen», so Nadeem. Regelmässig werden Menschen angegriffen. «Wenn Tiger alt werden und sie nicht mehr hinter den Gazellen herkommen, werden sie manchmal zu «Maneatern», Menschenfressern. Das ist der Lauf der Dinge», sagt der Ranger mit typisch asiatischer Gelassenheit.
Und dann wird es doch noch mal hektisch: Ein Team hat einen Prachtkerl von Tiger gesehen - gerade Mal zwei Meter neben der Piste. Wir nehmen die Verfolgung auf und donnert mit 80 Sachen über Hubbelpisten, Steine, Flüsse - ein Höllenritt, den es in dieser Abstrusität wohl nur in Indien geben kann. Natürlich ist der Riesen-Kater schon längst verschwunden, als wir die Stelle erreichen. Aber einen Fussabdruck hat er hinterlassen - so gross wie eine Menschenhand.
«Du kannst ruhig aussteigen und ihn fotografieren», sagt Nadeem. Naja: «Maneater» gibts ja angeblich nur ganz selten.
Informationen
Hinkommen: Die Swiss fliegt täglich von Zürich nach Delhi. Alternativ geht es mit einmaligem Umsteigen mit der Oman Air über Muscat zu mehreren Destinationen in Indien. Oma Air bietet zudem eine Verbindung Jaipur-Muscat-Zürich an. www.swiss.com. www.omarair.com
Runreisen: Travelhouse bietet Rundreisen im Golden Dreieck, in Rajasthan und in weiteren Regionen Indiens an. www.travelhouse.ch
Informationen: http://delhibycycle.com; www.incredibleindia.com