Aufgeputscht
Unsere Kinder im Stress

Schule, Freizeit, soziale Medien – der Druck auf unsere Kinder und Jugendlichen hat ein solches Ausmass angenommen, dass sie krank werden.
Publiziert: 20.08.2017 um 10:40 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 15:05 Uhr
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Unsere Kinder sind im Stress.
Foto: Igor Kravarik
Florian Blumer

Kindergärtler, die über Bauchweh klagen, Primarschüler mit Kopfschmerzen, Sekundarschüler mit Schlaf- und Essstörungen: Unsere Kinder sind im Stress. So der Befund von Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe von Pro Juventute. Die Kinder- und Jugendschutzorganisation betreibt die Notfallnummer 147 – und eine neue, exklusiv für SonntagsBlick erstellte Auswertung zeigt: Im ersten Halbjahr 2017 haben die Anrufe, die «schwerwiegende persönliche Probleme» betreffen, stark zugenommen. 29,5 Prozent der Anrufe und schriftlichen Anfragen – im Schnitt wenden sich rund 400 Kinder und Jugendliche pro Tag an Pro Juventute – fallen in diese Kategorie. 2012 waren es noch 17,5 Prozent. Und diese Fälle, so Kiener, haben oft mit Stress zu tun. Wie im Fall ­eines 15-jährigen Jungen, der schreibt: «Ich will eigentlich immer gute Noten machen, doch dafür muss man lernen, und zum Lernen muss man Kraft und Mut haben. Ich verzweifle immer, wenn eine grössere Prüfung angesagt wird. Meistens kommt es schlecht heraus, obwohl ich gelernt habe! Ich habe aber keine Kraft mehr, immer so lange zu üben. Wir haben so viel Stress in der Schule! Was soll ich tun?»

«Burnout-Kids»

Leistungsdruck gehört zur Schule und Prüfungen haben immer schon Stress verursacht. Doch der Druck auf unsere Kinder und Jugendlichen hat ein solches Ausmass angenommen, dass sie krank werden davon. Der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort erregte vor zwei Jahren grosses Aufsehen mit seinem Buch «Burnout-Kids», in dem er beschreibt, wie bereits Kinder unter den Folgen von Stress leiden. Auch Kinderarzt Remo H. Largo, Autor der Erziehungsbibeln «Babyjahre» und «Kinderjahre», warnte vor kurzem in einem Interview im «Tages-Anzeiger»: «Neuerdings haben wir auch Kinder mit Burnout. Das Bild ist immer das gleiche: Die Menschen stehen einfach still, machen nichts mehr.»

Der Begriff Burn-out ist umstritten, Professor Oskar Jenni vom Kinderspital Zürich sagt, die Diagnose sei ungenau. Doch wie man es auch nennen will: Die Leiden der Kinder aufgrund erhöhter Stressbelastung sind real. Neben den eingangs erwähnten körperlichen Symptomen gehört dazu auch Antriebslosigkeit bis zum Verlust des Lebenswillens. Ein zwölfjähriges Mädchen schrieb dem Kindernotruf 147: «Ich bin in letzter Zeit immer so müde und hab keine Kraft mehr. Nächste Woche haben wir drei Prüfungen und ich sollte eigentlich lernen, aber ich schaffs einfach nicht. Wenn ich nur schon dran denk, wird mir fast schlecht.»

Eine repräsentative Studie der Jacobs-Foun­dation von 2015 ergab, dass jeder zweite Jugendliche unter Stress leidet. Kinderarzt Jenni sagt, dass sich diese Zahl mit seinen Beobachtungen deckt. Was stresst unsere Jungen so? Eine Stressquelle, die in den letzten Jahren neu aufgetreten ist, ist das Smartphone: Es potenziert den sozialen Stress der Jungen und hält die jungen User 24 Stunden in Bereitschaft. Der zweite grosse Stressfaktor: der Verlust der freien Zeit.

60-Stunden Woche für Kinder

Beide Phänomene führen dazu, dass dringend benötigte Erholungsphasen ausbleiben, um Stress­phasen auszugleichen. Kiener sagt: «Viele Kinder haben heute aufgrund durchorganisierter Freizeit eine 60-Stunden-Woche. Im Schnitt spielen sie noch eine halbe Stunde pro Tag frei draussen. Das ist wahnsinnig wenig.»

Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt immer höhere Anforderungen an die Ausbildung der Jungen stellt, und die Angst vor Arbeitslosigkeit grösser geworden ist. Besonders tragisch: Viele Eltern reagieren darauf, indem sie die Leistung ihres Nachwuchses bereits im ­Kita-Alter gezielt zu fördern versuchen. Und erreichen damit das ­Gegenteil. Psychologe Urs Kiener sagt: «Das Kind wird damit nicht klüger, sondern demotiviert. Denn Kinder haben einen angeborenen Antrieb zum Lernen. Wird dem Kind vorgeschrieben, was es machen soll, versucht es, den Ansprüchen gerecht zu werden – und verliert die eigene Motivation.» Kiener weiter: «Für die Entwicklung des Kindes ist Überforderung genauso schlimm wie Vernachlässigung.»

Besonders gefährlich laut dem Kinderpsychologen: «Immer mehr Eltern und Lehrer vermitteln den Kindern, dass jeder Schüler in allen Bereichen sehr gute Leistungen erbringen kann, wenn er nur genügend gefördert und gefordert wird.» Doch die Veranlagungen sind sehr unterschiedlich und die Entwicklung verläuft von Kind zu Kind verschieden. Passen die Anforderungen nicht zum Entwicklungsstand und zu den Kompetenzen, löst das bei den Kindern Stress aus.
Weniger ist oft mehr: Dies gilt für die Kinder und Jugendlichen noch mehr als für die Erwachsenen.

Weitere Beispiele von Anfragen auf www.147.ch

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