In Istanbul prallen die Gegensätze immer unversöhnlicher aufeinander
Zerrissen zwischen Party und Prophet

In Istanbul mit seinen mehr als 15 Millionen Einwohnern prallen extreme Gegensätze aufeinander. Säkulare und Liberale ­haben das Gefühl, dass ihre Wünsche immer weniger geachtet werden – konservativen Istanbulern dagegen geht die Entwicklung zu schnell.
Publiziert: 13.10.2016 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2024 um 15:07 Uhr
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Allah ist gross: Religiöse Traditionalisten feiern in Istanbul das Aschura-Fest im Gedenken an den Propheten Hüseyin.
Foto: Emin Özmen
Frank Nordhausen

Tausende schwarz gekleideter Männer schlagen sich ekstatisch auf die Brust. Tausende Frauen in schwarzen Kutten heben klagend ihre Hände. Eine riesige Menschenmenge hat sich am Dienstag im Bezirk Halkali zum schiitischen Aschura-Fest versammelt, um den Märtyrertod des Propheten Hüseyin vor 1336 Jahren zu betrauern. «Für uns ist es das wichtigste Fest des Jahres», sagt Lebensmittelhändler Cemil Sahin Tekin (45). «Das ist unsere Tradition, das wird immer so bleiben.»

Rund zwanzig Kilometer entfernt sitzen junge Leute im schicken Szeneviertel Karaköy am Bosporus und nippen in ­einem Strassencafé an ihrem Cappuccino. Die Frauen tragen körperbetonte Jeans und knappe T-Shirts, die Männer modische Bärte und Piercings.

«Istanbul bietet so viele Möglichkeiten»

Die 20-jährige Innenarchitekturstudentin Jözde und ihre ein Jahr jüngere Freundin Bengisa, beide sorg­fältig geschminkt, würden nie einen Fuss in ein konservatives Stadtviertel wie Halkali, Fatih oder Eyüp setzen. «Istanbul bietet so viele Möglichkeiten», sagt Bengisa. «Warum sollten wir in Viertel gehen, in denen wir uns nicht frei fühlen?»

In Istanbul mit seinen mehr als 15 Millionen Einwohnern prallen extreme Gegensätze aufeinander: Auf der einen ­Seite feiern junge Leute das schöne Leben in den hippen Clubs am Bosporus oder im ­Szeneviertel Kadiköy, auf der anderen Seite stehen islamische Traditionen und ein tief verwurzelter Konservatismus von Millionen Zugewanderter aus Anatolien.

Man sagt, dass die Stadt zwei Kontinente verbindet. Aber eigentlich ist sie zerrissen zwischen Historie und Moderne, osmanischer Tradition und westlich orientiertem Fortschritt. Die Frauen in langen Mänteln und Kopftuch, die im Stadtteil Eyüp bei der grossen Moschee gerahmte Koransprüche fürs Wohnzimmer kaufen, haben mit den lilahaarigen Schmuckverkäuferinnen in Karaköy oder den Bankern im Finanzdistrikt Levent nicht viel gemein. Ausser, dass sie Bürger desselben Landes sind.

Sprung in die Moderne

Äusserlich hat sich die ­Mega-Metropole gewaltig gewandelt. Sah Istanbul noch vor einer Generation verwahrlost aus, so hat die Stadt vor allem unter ihrem früheren Bürgermeister und jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan (62) und seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP einen riesigen Sprung in die Moderne gemacht.

Noch immer ist der extreme Strassenverkehr ein Albtraum, aber Milliarden-Investitionen haben die Infrastruktur enorm entwickelt. Das Metronetz hat sich verzehnfacht, vor drei Jahren wurde der Marmaray-Bahntunnel unter dem Bosporus eingeweiht, Ende August die dritte Brücke über den Bosporus, ein Autobahntunnel ist bald fertig, gerade wird ein dritter Flughafen gebaut. Wolkenkratzer wachsen aus Abrissvierteln, riesige Hochhaussiedlungen am Stadtrand. Mit Modemessen, Kunstbiennalen, Film­festivals und einer lebendigen Klub- und Musikkultur hält Istanbul auch kulturell den Anschluss an die Moderne.

Doch die Misstöne werden lauter. Säkulare und Liberale ­haben das Gefühl, dass ihre Wünsche immer weniger geachtet werden. Demonstrationen werden verboten, Schwulenparaden abgesagt. Korruption und Vetternwirtschaft grassieren. Ideologie geht vor Bürgerwillen.

Konservativen Istanbulern dagegen geht die Entwicklung zu schnell. Die neuen Strassen, Brücken und Metrolinien seien grossartig, sagt Ihsan Bulut (26), der einen Laden für reli­giöse Kleider und Souvenirs im frommen Stadtteil Eyüp führt. Doch er sorgt sich, dass Computer, Smartphones und soziale Medien hergebrachte Werte zerstören. «Unser Lebensstandard ist viel höher als früher, aber ­keiner hat mehr Zeit für den anderen», seufzt er. Der Geschäftsmann wünscht sich «eine Rückkehr zu den osmanischen Werten», mit denen er Toleranz, Rücksichtnahme und die «Achtung muslimischer Traditionen» verbindet.

Die Polarisierung der Gesellschaft verstärkt sich

Wenn die jungen Frauen im Szeneviertel Karaköy das hören, schütteln sie sich. «Was soll das heissen, osmanische Werte?», fragen sie. Sie berichten, dass sie sich in konservativen Quartieren unsicher fühlen, einfach weil sie «anders» aussehen. Im September machte der Fall einer jungen Frau Schlagzeilen, die ein Religiöser in einem Bus in Istanbul verletzte, weil sie Shorts trug. Viele säkulare Frauen beklagen die zunehmende Islamisierung, die ihren modernen Lebensstil bedroht.

IS-Terror hat den Tourismus praktisch zum Erliegen gebracht und Furcht gesät. Das Gefühl der Bedrohung hat sich seit dem versuchten Militärputsch vom Juli deutlich verschärft. Der Ausnahmezustand wurde verlängert, ­Erdogan regiert mit Notstands­dekreten. Die Polarisierung der Gesellschaft verstärkt sich.

Nirgends wird der Kulturkampf so sichtbar wie beim Niedergang der Fussgängerzone Is-tik­lal Caddesi im alten Stadtviertel Beyoglu am Goldenen Horn. Bis zu zwei Millionen Menschen passieren sie jeden Tag. Hier kann man noch immer Frauen im Minirock neben Verschleierten sehen. Doch mit massiver Gentrifizierung und der Vertreibung von Kneipen, Buchläden und Galerien droht die Flaniermeile zu veröden.

«Diese Gegend war der Inbegriff der kulturellen Modernisierung Istanbuls. Hier haben wir versucht, an den Westen anzuschliessen – aber wie es aussieht, ist der Versuch gescheitert», beklagt der Buchhändler Burcin Kimmet, der kürzlich wegen einer drastischen Mieterhöhung die ­Istiklal Caddesi verlassen musste. «Wir übernehmen die kapitalistische Seite der Globalisierung, aber von Demokratie und kultureller Vielfalt, welche die Moderne eigentlich ausmachen, sind wir weit entfernt.»

Emin Özmen (Fotos)

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