Immer mit der Ruhe!
In Istanbul wird Pause grossgeschrieben

Wer Istanbul richtig erleben will, macht erstmal richtig «Keyif»: Pause. Zu Besuch in der faszinierendsten Stadt am Mittelmeer.
Publiziert: 18.03.2020 um 13:02 Uhr
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Aktualisiert: 27.08.2021 um 14:54 Uhr
Die Blaue Moschee ist nur eine der Attraktionen, die man in Istanbul gesehen haben muss.
Foto: Thinkstock
Christian Bauer

Die Liebe ist auch ein Zigarettenstummel: 4213 Stück sind an einer Wand des «Museums der Unschuld» in Istanbul aufgespiesst, wie exotische Schmetterlinge. Sie zeugen von Leidenschaft und von verschmähten Lieben.

Die Sammlung, die 2014 zum «Europäischen Museum des Jahres» gekürt wurde, hat die Idee eines gleichnamigen Buchs aufgegriffen, das der Istanbuler Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk geschrieben hat. In seiner Story sammelt der liebestolle Kemal Objekte seiner grossen, aber unerreichbaren Lieben. Und bastelt aus Parfumflakons, Stofftüchern, Ohrringen und aus Kippen ein Andenken an die Frau seiner Träume.

Schmachten wie im Museum der Unschuld

Genau deswegen sollte ein Besuch am Bosporus im «Museum der Unschuld» beginnen. Denn dort entwickeln Reisende eine ähnliche Passion wie der unglückliche Kemal: Man würde am liebsten seine Bewunderung für die Stadt auf immer und ewig festhalten, die Gerüche des Basars, das goldene Licht der untergehenden Sonne über dem Bosporus, der sehnsüchtige Singsang der Muezzine, die herzhaft-süssen Gaumenliebkosungen.

Klingt übertrieben? Vielleicht. Aber Istanbul hat am Rande Europas noch immer die Macht, alle Zeilen in Schwärmerei zu verwandeln: auch wenn sie in den letzten Mo­naten mit Unruhen Schlagzeilen schrieb. Für Touristen besteht keine Gefahr, wenn sie sich von grösseren Menschenansammlungen und Demonstrationen fernhalten, so wie es das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) empfiehlt.

Istanbul hat in seiner 3000-jährigen Geschichte schon viele Wirren, Herrscher und Despoten erlebt – die Lebenslust seiner mittlerweile weit über 13 Millionen Bewohner bleibt ungebrochen. Und der Zauber des Alten Orients und das hippe Europa des 21. Jahrhunderts wirken selbst an schweren Tagen berauschend. Auch wenn das Klischee abgenützt ist, es ist wahr: Istanbul, das ist Europa und Asien, Ost und West  – und die einzige Stadt, die auf zwei Kontinenten liegt.

Am Tigh Gap von Europa und Asien

Vom Galata-Turm im Stadtteil Beyoğlu hat man einen guten Überblick über den Bosporus, der Istanbul in einen europäischen und in einen asiatischen Teil trennt. Die Meerenge ist 30 Kilometer lang und teilweise nur 700 Meter breit. Seit diesem Jahr braucht man nur noch knapp drei Minuten, um mit der neuen U-Bahn unter dem Wasser durch von Europa nach Asien zu flitzen.

Stilechter lässt sich der Weg per Fähre zurücklegen, sie schippern hier schon seit Jahrhunderten übers Wasser. Heute streiten sich Wassertaxis mit Fischerbooten, haushohen Containerschiffen und Kreuzfahrtdampfern um den knappen Platz. Etwa 50 000 Schiffe fahren jährlich durch Istanbul. 

In den Bosporus hinein ragt, gebogen wie eine Hakennase, die Altstadt Istanbuls, das Herz der Stadt. Und sie ist auch deren Bauch: Im Gassen-Labyrinth des Basar-Viertels ist der Orient zum Greifen nah. Lastenträger mit zentnerschweren Säcken oder monströsen Flachbildschirmen auf ihren Rücken drängeln durch den chaotischen Ameisenhaufen der Passanten – hier ist es zu eng für Autos. Dazwischen Stände mit gegrilltem Mais, kleine Teestuben und all die Imbissbuden mit herbdeftigen Kokoreç, kross gebratenen Lamminnereien. Eine Delikatesse und Herausforderung für Westeuropäer zugleich.

Der überdeckte Basar aus dem 15. Jahrhundert ist eine Stadt in der Stadt. Eines ist hier sicher: Man wird sich auf dem 30 000 Quadratmeter grossen Areal mit seinen über 4000 Geschäften unweigerlich verlaufen. Weniger sicher ist, ob der Pashmina-Schal nicht doch aus Baumwolle besteht. Egal, Spass macht das Handeln allemal – und es gehört zum guten Ton. Als Daumenregel gilt: Bis zu 30 Prozent des Anfangspreises kann man immer herausschlagen. Sollte es nicht klappen, nicht verzagen – die Verkäufer sind Profis.

Je weiter man in die Welt des Basars eindringt, desto authentischer wird das Einkaufsfeeling. Und ehe man sichs versieht, verschwatzt man eine Stunde mit dem Händler bei einigen Gläsern süssen Tees. Und dass man bei ihm doch keinen Teppich kauft, spielt letztendlich keine Rolle, denn hier gehts um «Keyif» – das betörende Nichtstun, das Istanbuler derart lieben. Was nichts mit Faulenzen zu tun hat, sondern mit Lebensgenuss. Wenn dadurch der Sightseeing-Zeitplan aus dem Ruder läuft, was solls? «Die Sehenswürdigkeiten stehen auch noch beim nächsten Besuch», sagt der Teppichverkäufer.

Von der Blauen Moschee zur Hagia Sophia

Dazu zählt auch die Blaue Moschee, deren grosse Kuppel über und über mit blauen Kacheln verziert ist und deren Gebetsraum eine herrliche Ruhe ausstrahlt. Oder die Zisterne, die aussieht wie eine unterirdische Kathedrale. Und die Hagia Sophia, die Kirche der göttlichen Weisheit, im Palastviertel Sultahamed, die schon seit 1500 Jahren Menschen fasziniert und noch immer Top-Attraktion der Metropole ist.

Nur wenige Meter nebenan gings bis Anfang des 20. Jahrhunderts weit weltlicher zu. Im Harem des Topkapi-Palastes vergnügten sich die osmanischen Sultane mit ihren Frauen. Bis zu 500 Gespielinnen sollen im abgeschlossenen Harem gelebt haben, bewacht von schwarzen Eunuchen. Trotz der Touristenmassen erahnt man noch immer die Zeiten, als hier Schildkröten mit Kerzen auf den Panzern die Gänge und Erotik in gelbes Licht tauchten.

Wer in Istanbul vom Orient Pause machen will, findet im neuen Szene-Viertel Karaköy am Hafen den Flair von Paris oder Barcelona: Loungemusik, Model-Style, Fusions-küche, Modernität. Doch kaum in Westeuropa angekommen, erklingt in der Ferne die Stimme des Orients: der Betruf des Muezzins.

Und wieder packt die Besucher die Gewissheit: Herrlich, diese verschlungenen Welten.

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