Unentdeckte Perlen
Wo die Schweiz den Süden atmet

Das kleine Bergell im Bündnerland steht im Schatten des touristischen Oberengadins. Zum Glück. Das Tal konnte seinen ursprünglichen Charme bewahren. Die perfekte Region für herbstliche Kurzferien.
Publiziert: 21.09.2017 um 13:05 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 06:50 Uhr
Soglio wurde vor zwei Jahren zum «Schönsten Dorf der Schweiz» gewählt.
Foto: Christian Speck
Christian Bauer

Schön, wenn man unerwartet ein Schmuckstück entdeckt. Etwa ein Hotel wie eine Zeitkapsel aus dem 19. Jahrhundert mit Stuck, Ölschinken, Musikzimmer und knarzenden Dielen. Aber ohne Zentralheizung, weswegen der «Palazzo Salis» im Dörfchen Soglio jeden Winter seine Pforten schliesst. Wie charmant!

Für knapp 500 Jahre war das Gemäuer das Herrenhaus des Von-­Salis-Clans, der einflussreichsten Adelsfamilien der Region. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das stattliche Anwesen in ein Hotel umgebaut – und seitdem kaum renoviert.

Das «schönste Dorf der Schweiz»

Ich logiere im ehemaligen Büro des Palazzo, inklusive Kreuzrippengewölbe, Holzvertäfelung und Aktenschrank mit Hunderten Fächern. Ich bin total von den Socken – wie auch allgemein von dem herbstlichen Bergell. Noch so eine Entdeckung.

Nur etwa 20 Kilometer misst das Grenztal zu Italien, das im Schatten des allmächtigen Engadins im touristischen Dornröschenschaf vor sich hin träumt. Zum Glück! So konnte das Val Bregaglia (und der Palazzo) seinen ­ursprünglichen Charme bewahren. Perle des Tals ist das Dorf Soglio, das im Jahr 2015 den Titel «Schönstes Dorf der Schweiz» eingeheimst hat. Die Auszeichnung ist verdient: Auf einer Terrasse hoch über dem Tal räkelt sich der 200-Seelen-Fleck in der Sonne, eingerahmt von Dreitausendern. Zwischen den wärmenden Steinmauern entdecke ich Feigen, Kiwis, Palmen. Hier umweht ein Hauch Süden die Schweiz.

Herbstzeit ist Kastanienzeit

Ein Muss ist eine Genusswanderung durch die herbstlichen Kastanien­haine, die an englische Landschaftsgärten erinnern. Was heute so lieblich anmutet, war über Jahrhunderte hinweg überlebenswichtig: Marroni waren die Notrationen für harte Winterzeiten. Dementsprechend respektvoll gehen die Bergeller mit ihren Kastanienbäumen um, die auch heute noch gehegt und gepflegt werden.

Wer Kastanien vom Boden mitnimmt, kann sich eine Busse einhandeln.
Foto: mauritius images

Und ebenso hart wird jede einzelne Nuss verteidigt: Das Auflesen von Früchten ist strengstens verboten, Unbedarfte können sich gar eine Busse einfangen. Wie anno dazumal werden die Kastanien im Herbst in Schuppen geräuchert, anschliessend in Handarbeit von Schale und Haut befreit. «Das ist die Arbeit für meine Winterabende», lacht Patric Gonzalez (32), der bei der Ernte mithilft.

Der Konditormeister braut das einzige Kastanienbier des Tals und muss sich deshalb auch seine Ration der braunen Kugeln sichern. «In schlechten Jahren will kaum jemand seine Kastanien verkaufen.» Seit einem Jahr ist das Bier ausgereift. Der Geschmack: so rauchig-süss wie die Bergeller Herbstluft (zu kaufen in der Panetteria Pasticceria Gonzalez in Vicosoprano).

Konditor Patric Gonzalez braut das einzige Marroni-Bier des Tals.
Foto: zVg

Das Tal der Künstler

Eine Reise ins Bergell ist freilich nicht komplett ohne Besuch beim berühmtesten Spross der Region: Bildhauer Alberto Giacometti. Der Schweizer Kunst-Weltstar wurde 1901 im Dörfchen Borgonovo geboren, legte in Paris eine internationale Karriere hin und wurde schliesslich 1966 auf dem Dorffriedhof begraben. Hier erwartet mich Dr. Marco Giacometti (57), ein ferner Verwandter des berühmten Bildhauers, mit dem ich auf Kunst-Spurensuche gehen möchte.

«Jeder kennt Alberto Giacometti. Aber er ist nur ein Teil einer Künstlerdynastie», erläutert der Familien­chronist. «Vater Giovanni war Maler und Kunsterzieher Albertos, Bruder Diego arbeitete als Bildhauer und Bruder Bruno als Architekt. Mit zur Künstlergrossfamilie gehört auch Augusto Giacometti, der für seine Glasfenster in Zürcher Kirchen bekannt ist.» Alle sind in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem kleinen Friedhof begraben – ein Grabstein stammt sogar aus der Hand Alberto Giacomettis.

Der Mathematiklehrer, der zusammen mit Gleichgesinnten das «Centro Giacometti» gründete, möchte Interessierten die Geschichte seiner Verwandten näherbringen. Nebst einer Wander-App bietet der Verein Führungen zu den Stationen der Giacomettis an. Zudem würzt der Nachfahre die Tour mit Familienanekdoten und kunstgeschichtlichen Gedanken. Die spindeldürren Figuren mit den Rie-senfüssen wechseln mittlerweile für über 100 Millionen Franken den Besitzer. Der Bergeller Spross hat eine eindrückliche Karriere hingelegt.

Kulinarische Köstlichkeiten und historische Gemäuer

Eines ist klar, so dünn wie Giacomettis Skulpturen kommt niemand aus dem Bergell zurück: Das Essen schmeckt zu gut. Die Abende klingen im Restaurant des Palazzo Salis aus, wo Lokales auf den Tisch kommt: Lamm aus der Region, Kastanien aus Soglio, Gemüse vom Dorfbauern.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Palazzo Salis zu einem Hotel umgebaut.
Foto: Christian Speck

«Palazzo-Herr» Christian Speck findet immer Zeit für ein Schwätzchen mit seinen Besuchern. Der Innenarchitekt, der vor zwei Jahres das Haus gepachtet hat, schwärmt von dem historischen Gemäuer: «Das Haus ist ein Rohdiamant, den wir stärker zum Funkeln bringen wollen.» Derweil besprenkelt die Abendsonne die gegenüberliegenden Berggipfel mit Gold. Passt zum Diamanten.

Gut zu wissen

Hotel Palazzo Salis: Geöffnet von Mitte April bis Ende Oktober. Preis für ein Doppelzimmer ab 152 Franken pro Person,inklusive Halbpension. www.palazzo-salis.ch

Geführte Wanderungen: Wer das Bergell mit einem Wanderführer erkunden will, kann mit Werner Anliker auf Tour gehen. www.wandern-ist-mehr.ch

Auf den Spuren Giacomettis: Die App «Giacometti Art Walk» bringt durch Videos, Bilder und Texte auf einer individuellen Wanderung die Geschichte der Künstlerfamilie näher (derzeit nur auf Italienisch, ab 2018 auch auf Deutsch). App und Anfrage für eine geführte Tour unter: www.centrogiacometti.ch

Kastanienfest: Vom 1. bis am 22. Oktober findet das Kastanienfestival mit Wanderungen, Workshops und Ausstellungen statt.

Panoramawanderung: Die schönste Wanderung des Tals ist der Panoramaweg von Maloja nach Soglio. Auf 18 Kilometern geniesst man herrliche Ausblicke.

Hotel Palazzo Salis: Geöffnet von Mitte April bis Ende Oktober. Preis für ein Doppelzimmer ab 152 Franken pro Person,inklusive Halbpension. www.palazzo-salis.ch

Geführte Wanderungen: Wer das Bergell mit einem Wanderführer erkunden will, kann mit Werner Anliker auf Tour gehen. www.wandern-ist-mehr.ch

Auf den Spuren Giacomettis: Die App «Giacometti Art Walk» bringt durch Videos, Bilder und Texte auf einer individuellen Wanderung die Geschichte der Künstlerfamilie näher (derzeit nur auf Italienisch, ab 2018 auch auf Deutsch). App und Anfrage für eine geführte Tour unter: www.centrogiacometti.ch

Kastanienfest: Vom 1. bis am 22. Oktober findet das Kastanienfestival mit Wanderungen, Workshops und Ausstellungen statt.

Panoramawanderung: Die schönste Wanderung des Tals ist der Panoramaweg von Maloja nach Soglio. Auf 18 Kilometern geniesst man herrliche Ausblicke.

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