Das Tal ist eng geworden, steile Wände ragen auf, die Strasse quetscht sich entlang der Felswand – ansonsten führt sie durch abenteuerliche Tunnel. Die Überreste einer Lawine zeigen, dass die Jahreszeiten hier ihrem eigenen Rhythmus folgen.
Nur wenige Kilometer hinter dem Nobelort Bad Ragaz mit seinen Luxushotels befindet sich das wohl wildeste Stück Natur des Kantons St. Gallen: das Calfeisental. Vom historischen Walserdorf St. Martin mit einer Handvoll Bewohnern im Sommer (Beiz und Übernachtung) abgesehen gehört der Ausläufer der Unesco-Welterbe-Region Sardona ausschliesslich der Natur.
Im Calfeisental leben Bartgeier - manchmal
Hier sind wir mit Swiss Ranger Kurt Walser (48) unterwegs, um dem Bartgeier, dem berühmtesten Bewohner des Tobels, einen Besuch abzustatten. Heidiland Tourismus, zu dessen Zuständigkeitsbereich die Region gehört, bietet diese Tour im Rahmen der neuen Kampagne von Schweiz Tourismus an. Unter dem Motto «Die Natur will dich zurück» möchten Schweizer Bergregionen und Parks mit Themenwanderungen, Workshops, Exkursionen und Wildtierbeobachtungen die Menschen (wieder) für Schweizer Naturschätze begeistern.
Doch geschenkt bekommt man die Erlebnisse in Wald und Flur nicht. Um zur Wohnstube der Riesenvögel zu gelangen, müssen wir von St. Martin gute anderthalb Stunden den Berg hinauf marschieren (Stärkung in der Beiz nicht vergessen). Eine Grundkondition ist für diese Wanderung Voraussetzung.
Kurt Walser nutzt die Zeit für eine ausgiebige Naturkundeexkursion: Von Gämsen, Steinböcken und Murmeltieren erzählt er, spricht über Enzian und Alpenröschen, sucht nach Kreuzottern und Eidechsen. Und er referiert über die Wölfe – im Nachbartal zieht das mittler-weile berühmte Calanda-Rudel durch die Wälder. An der Baumgrenze angekommen, endet das Calfeisental in einem offenen Kessel; nackter Fels und Weite prägen hier das Bild. «So hat es der Bartgeier am liebsten», erläutert Walser. «Hier kann er seine Kreise ziehen und nach Aas Ausschau halten.»
Die fliegenden Hipster
Bartgeier sind so etwas wie die Hipster der Lüfte: Mit ihrem Bärtchen unter dem Schnabel folgen sie dem derzeitigen Modetrend. Eitel scheinen die riesigen Vögel (sie erreichen Spannweiten von 2,90 Metern) ausserdem zu sein: Ihre weissen Hals- und Brustfedern, ein Zeichen erwachsener Tiere, färben sie gerne mit eisenhaltigem Wasser rot. «Ausserdem leuchtet der Ring um ihre Augen bei Aufregung feurig rot», schwärmt Walser, der die Begeisterung für die Vögel nicht verstecken kann.
Auch als Lämmergeier bekannt, wurden die Vögel im 19. Jahrhundert komplett ausgerottet. Erst durch die Bemühungen von Naturschützern wurden die Vögel ab den 1980er-Jahren in den Alpen wieder ausgewildert. 2001 wurden die ersten drei Jungtiere erfolg-reich im Calfeisental ausgesetzt. Doch ob wir eines der majestätischen Tiere sehen werden, ist ungewiss: Bartgeier sind ausgesprochene Wandergesellen.
250 Bartgeier leben im Alpenraum
«Mittlerweile leben 250 Tiere im gesamten Alpenraum», so Walser. Tiere, die keinen festen Wohnsitz haben – das sind sozusagen 250 Stecknadeln in einem 200 000 Quadratkilometer grossen Heuhaufen. Ob wir überhaupt eine Chance hätten, dass ein Bartgeier heute vorbeikommt? Walser ist zuversichtlich. «Aber», so sagt er, «eine Garantie gibt es nie. Bei Wildtierbeobachtungen geht es um das Gesamterlebnis.»
Daher erfreuen wir uns an der Aussicht, an Gämsen, Steinböcken und Steinadlern und wollen schon umkehren, als Walser einen kleinen Punkt am Himmel entdeckt. Geier oder Adler – das ist hier die Frage. Von der Ferne sind die ähnlich grossen Vögel kaum zu unterscheiden. Doch die Flügel und Schwanzform beweisen es: Es ist tatsächlich ein Bartgeier!
Nun kommt Bewegung in die Gruppe, Fotoapparate und Fernstecher werden gezückt. Wir drängen uns um Walsers Teleskop, welches den Vogel ganz nahe heranholt. «Der ist ja wirklich wunderschön», raunt jemand. Stimmt, im Gegensatz zu seinen zerzausten Verwandten in Afrika ist der Bartgeier ein Beau. «Und wie majestätisch der segeln kann.» Die Hobby-Zoologen sind völlig aus dem Häuschen. «Sein Hals und Bauch sind schon weiss. Er ist schon ausgewachsen», so Walser.
Ob es einer der hier ausgesetzten Tiere ist, wollen wir wissen. «Das ist so aus der Ferne schwer zu sagen», meint Walser. Auf jeden Fall ist es einer von 250. Wir haben die Stecknadel im Heuhaufen gefunden.
Wildtierbeobachtungen
In der Region um Bad Ragaz bietet Heidiland Tourismus Touren zu Bibern, Steinböcken und Bartgeiern an. Unterschiedliche Dauer, Preise 20 bis 50 Franken. www.heidiland.com
Verpflegen / Übernachten
Das Restaurant St. Martin hat einen neuen Pächter. Gereicht werden Bergklassiker mit einem kreativen Pfiff. In der Walsersiedlung kann man in Hotelzimmern oder im Massenlager übernachten. www.sanktmartin.info
Wildtierbeobachtungen
In der Region um Bad Ragaz bietet Heidiland Tourismus Touren zu Bibern, Steinböcken und Bartgeiern an. Unterschiedliche Dauer, Preise 20 bis 50 Franken. www.heidiland.com
Verpflegen / Übernachten
Das Restaurant St. Martin hat einen neuen Pächter. Gereicht werden Bergklassiker mit einem kreativen Pfiff. In der Walsersiedlung kann man in Hotelzimmern oder im Massenlager übernachten. www.sanktmartin.info