Mittagsrast in Soglio GR. Vor der Nase die weiss überzuckerten Gipfel der Bergeller Alpen, im Rücken die von der Herbstsonne aufgewärmte Fassade des Hotels Palazzo Salis. Am Nebentisch schwelgt eine Dame in Nostalgie. Vor 50 Jahren habe sie hier im Tal ein paar Ferientage verbracht, erzählt sie in gepflegtem Hochdeutsch. Nun schätze sie sich überglücklich, noch einmal in diesem Paradies weilen zu dürfen. Die Landschaft und Dörfer hätten sich kaum verändert.
Anders gesagt: Im Bergell, Amtssprache Italienisch, rund 1500 Einwohner, ist die Zeit stehen geblieben. Reiseberichte loben das Bündner Südtal mit den vielen Kulturdenkmälern für seine Beschaulichkeit, die Webseite des lokalen Tourismusbüros bewirbt es mit «Einfach authentisch». Dass es sich mit dem Wakker-Preis 2015 des Schweizer Heimatschutzes schmücken darf, suggeriert zudem: Wer hierher reist, reist in die Vergangenheit.
Doch ist dem so? Rückblende. Eben erst haben wir die Oberengadiner Seenlandschaft mit ihren mondänen Tourismusorten hinter uns gelassen und auf dem Malojapass angehalten, dort bricht das Gelände abrupt ab. In zwölf Haarnadelkurven schraubt sich die Strasse in den engen Bergeller Talkessel. Ihr mit den Augen zu folgen, macht allein schon schwindlig und vermittelt das Gefühl, sie führe in eine andere Welt. Eine Viertelstunde später und 400 Meter weiter unten passieren wir auf einer schmalen Ebene das Dorf Casaccia.
Wir machen einen kurzen Stopp an der Seilbahn Albigna. Diese erschliesst die gleichnamige Staumauer und wird bis Juli 2016 saniert. Ein Plakat zeigt, wie die Talstation dereinst aussehen soll. Der bestehende Flachdachbau verschwindet – entworfen hatte ihn 1955 Architekt Bruno Giacometti aus der berühmten Bergeller Künstlerdynastie. Neu wird eine Stahlkonstruktion errichtet. Die darüber gefaltete Wellblechhaut nimmt Formen und Farbe des felsigen Gebirges auf, gleichzeitig wirkt sie futuristisch. Eine raffinierte Lösung des jungen Architektenbüros Alder Clavuot Nunzi aus Soglio. Und ein erstes Anzeichen dafür, dass im Bergell nicht nur das Althergebrachte etwas gilt.
Täglich vergandet Kulturland in der Grösse eines Tennisplatzes
Im Albergo Corona in Vicosoprano werden wir bereits erwartet. Das ehemalige Patrizierhaus hat schon fast 500 Jahre auf dem Buckel. Und es hält Wirt Aldo Petti (62) noch immer auf Trab. Mit Kochmütze auf dem Kopf schüttelt er den Neuankömmlingen kurz die Hand. Die Frage, ob man am nächsten Morgen kurz zusammensitzen könne, quittiert er mit einem erstaunten «Sitzen?» – und schon verschwindet er wieder in der Küche. Schliesslich sind in der spätgotisch getäferten Stube alle Tische reserviert.
Nein, Slow Motion und Aldo Petti passen nicht zusammen. Statt eines gemeinsamen Kaffees beim Frühstück – der Chef bestreitet den Service – steht denn auch eine holprige Bergfahrt im Pick-up an. Auf dem Programm: «Alpschweine füttern und einen Zaun abbauen», da Pettis Geissen jetzt schon ein Stück weiter unten weiden. Aus ihrer Milch stellt er den von Slow Food ausgezeichneten Frischkäse Mascarpin her. Was der ursprünglich aus den Abruzzen stammende Selfmade-Mann sonst noch so alles macht?
«Hirschsalziz», sagt er stolz und öffnet den Steinkeller einer Alphütte, in dem die würzig duftenden Würste zum Trocknen hängen. Die Hütte hat sein Sohn erworben. Samt dem Umschwung, der nach dem Kauf von wuchernden Haselsträuchern befreit werden musste.
Kulturland in der Grösse eines Tennisplatzes vergandet pro Tag im Bergell, weil es nicht mehr bewirtschaftet wird. Das erfahren wir, kurz nachdem uns der Gastgeber auf den Sentiero Panoramico entlassen hat. Tafeln informieren am Pfad über Entwicklungen im Tal. In sanftem Auf und Ab führt er durch den Mischwald, immer wieder öffnet sich der Blick auf die gegenüberliegende Talseite, wo der Piz Badile und viele weitere Bergzacken in den Himmel stechen. Ein Kletterparadies, das Alpinisten aus aller Welt anzieht.
Bergeller Granit ist sehr solide. Nicht nur fürs Kraxeln. Daraus sind auch die Platten gefertigt, die nahezu jedes Hausdach bedecken. Ebenso die massiven Treppenstufen, die nach zwei Stunden vom Panoramaweg hinunter nach Soglio führen. Ein bilderbuchhaftes Nest: Die Gässchen sind gepflästert, Brunnen plätschern, Herrschaftshäuser kontrastieren mit Ställen. Zwischen Mauern gedeihen Nutz- und Ziergärten, über allem wacht ein schlanker Kirchturm mit hübscher Haube. Etwas Patina sorgt dafür, dass der Ort auf seiner Sonnenterrasse nicht zu aufgebrezelt wirkt.
Man will mehr Touristen ins Dorf locken
Gleiches gilt für das historische Hotel Palazzo Salis, in dem wir übernachten. In den antik möblierten Zimmern ist Berühren erlaubt. Einzig im grossen Rittersaal wachen strenge Augen. Sie gehören dem Bauherrn von 1630, Baptista von Salis, dessen Porträt die Wand ziert. Die Salis waren einflussreiche Adlige, die ihre Macht im Tal mit mehreren Palastbauten manifestierten.
Weniger markante Spuren hat die andere wichtige Bergeller Familie hinterlassen: die Giacomettis aus Stampa. Vater Giovanni, dessen Cousin Augusto, die Söhne Alberto und Diego – alles erfolgreiche Künstler. Alberto war sogar einer der bedeutendsten Plastiker des 20. Jahrhunderts. Doch viel mehr als die Gräber auf dem Friedhof in Borgonovo, ein Giacometti-Raum im Ortsmuseum Ciäsa Granda und eine diskrete Inschrift an der Aussenwand des für das Publikum unzugänglichen Giacometti-Ateliers in Stampa erinnert nichts an sie.
Einer, der das ändern möchte, ist der Bergeller Lehrer Marco Giacometti (55). Er empfängt uns im ehemaligen Gasthof von Albertos Grosseltern in Stampa. Der Hotelsaal dient als Büro der Stiftung Centro Giacometti. Als deren Präsident schwebt Marco Giacometti vor, verschiedene Ställe zu kaufen und darin die Geschichte seiner entfernten Verwandten nachzuerzählen. Nicht mit ihren Werken, die sind ohnehin in alle Welt verstreut, sondern multimedial. Ein Neubau soll als Zentrum die Besucher gebührlich empfangen. «Es soll kein Disneyland werden», sagt Giacometti, «aber ein Ort, der die Kraft hat, mehr Touristen ins Tal zu locken.»
Für die Verwirklichung des ambitiösen Projekts haben die Bergeller trotz kritischer Stimmen schon zwei Kredite gutgesprochen. Es fehlen aber noch namhafte Beiträge. Möglicherweise bringt nun das Giacometti-Gedenkjahr 2016 das Vorhaben einen Schritt weiter. Von der Gemeinde koordiniert werden von verschiedenen Seiten Programmbeiträge organisiert.
Der 83-Jährige war einer von 40 Bauern im Dorf
Zurück in Soglio. Es ist Zufall, dass wir dort auf Dino Salis treffen. Im Dorf ist er der Letzte, der diesen Namen trägt. Was sich hier sonst noch im Laufe der Zeit verändert habe, wollen wir von dem 83-Jährigen wissen. Er streckt die Hand aus und dreht sie um 180 Grad. Von den einst 40 Bauern, darunter auch er, seien nur mehr drei übrig geblieben. Die jungen Leute zögen weg, viele Häuser stünden leer, Fremde hätten einige als Feriendomizil aufgekauft. «Das hat auch sein Gutes», meint er pragmatisch, «dann zerfallen sie wenigstens nicht.»
Was durchaus stimmt. Am oberen Dorfrand findet sich ein Stall, der heute als privates Gästehaus dient. Von aussen fällt es kaum auf: Die Gebäudehülle weist nach wie vor ihre typische Gestaltung auf, die grossen Fenster sind hinter verstellbaren Holzlamellen versteckt. Solch vorbildliche Beispiele haben den Schweizer Heimatschutz dazu bewogen, dem Bergell den Wakker-Preis zu verleihen. Dieser steht somit nicht zuletzt für die kluge Weiterentwicklung des traditionellen Bestands. Aber wie in Castasegna auch für neues Bauen.
Das Dorf an der italienischen Grenze kann zwar mit einem der grössten Edelkastanienhaine Europas punkten. Sehenswert ist dort aber vorab die 1862 vom deutschen Stararchi tekten Gottfried Semper entworfene Villa Garbald. 2004 hat das Kulturdenkmal eine Ergänzung durch einen modernen Wohnturm bekommen, der Selbständigkeit ausstrahlt und sich doch ins Umfeld einordnet. Auf der Heimfahrt ein letzter Abstecher: zum Palazzo Castelmur, dem Pseudoschloss eines Bergellers, der sich in Italien als Zuckerbäcker eine goldene Nase verdient hatte. Die Dauerausstellung im obersten Geschoss berichtet davon. Als Gegenstück findet sich hier auch eine temporäre Kunstvideo-Schau.
Faszinierend: das Duplikat einer Uhrenfigur aus der Sammlung des Hauses. Statt eines Kopfs trägt sie ein projiziertes Zifferblatt, die Zeiger gehen darauf mal vor-, mal rückwärts. Zusammen mit anderen Videoarbeiten, welche die Räumlichkeiten mit Leben erfüllen, macht sie gewiss: Im Bergell ticken die Uhren etwas anders. Aber sie stehen nicht still.