Der beste Freund des Bikers ist der Akku. Denn E-Bikes sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken: 2014 wurden laut Branchenverband Velosuisse fast 58'000 Elektrovelos verkauft – 15,5 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahr. In den letzten zehn Jahren waren es mehr als 300'000.
Auf Schweizer Velowegen schnurrts und brummts entsprechend häufig. Wo einst Schweiss floss, sausen rüstige Rentner lächelnd die Berge hinauf. Klar, dass Städte und Regionen zusehends ihr Ausflugsangebot auf die neue Klientel ausrichten. Eine der ersten E-Bike-Strecken wurde 2003 eingeweiht: Sie führt von Lützelflüh BE nach Willisau LU und gehört zur sogenannten Herzroute: ein Radweg speziell für E-Bikes, der sich über 720 Kilometer von Lausanne bis zum Bodensee erstreckt.
Seit 2004 arbeiten die Initianten mit dem Schweizer Hersteller Flyer zusammen, dessen E-Bikes man entlang der Strecke mieten kann. Auch Batterie-Stationen sind eingerichtet, dort können die Akkus ausgewechselt werden. Damit keiner zwischen Berg und Tal sitzen bleibt. Das letzte Stück der Herzroute wurde erst dieses Jahr fertiggestellt: zwischen Zug und Rohrschach SG. Geradelt wird individuell, selbstredend auch auf kleineren Etappen.
Probefahrt durch die «schönsten Ecken» der Schweiz
Vollmundig versprechen die Organisatoren, ihre Herzroute führe an den «schönsten Ecken» der Schweiz vorbei. Ein mächtiges Statement in einem Land, dessen Schatz an Naturschönheiten derart gross ist.
Grund genug, das E-Bike zu schnappen und das jüngste Teilstück unter die Räder zu nehmen. Los gehts am Bodensee, in Rorschach SG. Schnell führt uns die Route hinauf zu den sanften Ausläufern der Alpen, wo sich der Blick über den Bodensee weitet. Man erkennt Bregenz, Lindau – und in der Ferne Kreuzlingen und Konstanz.
Überhaupt gehts auf der Tour um eben diesen Fernblick. Immer wieder klettert der Weg an Hügeln empor und schenkt Reisenden den Genuss der Weite – Gipfelerlebnisse. Auch wenn es der Ostschweiz an Bergen fehlt, die diesen Namen verdienen (vom Säntis natürlich mal abgesehen): Der Streckenverlauf im hügeligen Voralpenland wäre ohne E-Power eine Quälerei: für Po und Beine gleichermassen. Er verläuft in der Ostschweiz über ruhige Nebenstrassen, vorbei an Mini-Weilern und an verschlafenen Dörfern. Eine heimatliche Idylle, wie sie in jedem fremdsprachigen Reiseführer beschrieben wird. Herrlich.
Der Weg führt auch an Kultur und Historie vorbei
Die Streckenführung zielt allerdings nicht allein auf die schönen Landschaften des Rheintals, beider Appenzell und des Toggenburgs. Sie schliesst Kultur und Historie mit ein. In der Kantonshauptstadt Appenzell etwa entdecken wir ein Museums- und Architekturjuwel: das Kunstmuseum Appenzell. Der gezackte, silbrige Bau steht etwas abseits vom Stadtkern, darin werden Werke der lokalen Maler Carl August Liner und von dessen Sohn Carl Walter Liner gezeigt sowie Wechselausstellungen zur modernen Kunst.
Zwar schrammt die Herzroute knapp an der Unesco-Stadt St. Gallen vorbei, ein Abstecher ist aber ein Muss (ab Gübsensee Schilder nach St. Gallen folgen). Also hinein in die kleine Altstadt und etwa auch in die Stiftsbibliothek im Kloster – ein Kleinod barocker Architektur, das nördlich der Alpen Seinesgleichen sucht. Über dem Eingang steht in griechischen Lettern Seelenapotheke. Ob sich das auf den Inhalt der ledergebundenen Bücher oder die Harmonie des Raums bezieht? Egal.
Beschwingt strampeln wir weiter: Richtung Toggenburg, durchs schöne Städtchen Lichtensteig, über die Passhöhe Ricken (805 Meter ü. M.), hinüber zum Nordufer des Zürichsees. Und wieder erwartet uns eine gewaltige Aussicht!
Der See vor dem malerischen Alpenpanorama, prächtig. Nach dem langen Wochenende erreichen wir schliesslich Rapperswil SG – und damit unser Ziel.
Bleibt die Frage: Führt die Herzroute tatsächlich an die schönsten Stellen der Schweiz? Ansichtssache. Unbestritten ist: Sie gewährt einen abwechslungsreichen Einblick in die vielfältigen Regionen der Schweiz. Und jede Menge Erholung und Entschleunigung.