Wenn die drei Jogger unten am Bach wüssten, was hier oben los ist, sie würden nicht so gelöst schwatzen und laufen. Hier oben geht es Cléo und Farouch gerade an den Kragen. Cléo und Farouch sind zwei westafrikanische Krokodile, die in die Transportkisten sollen. Doch die 150 und 200 Kilogramm schweren Tiere wollen nicht. Seit etwa 33 Jahren leben sie in diesem Gehege. Ihr Alter kennt man nicht genau, in den 1970er-Jahren wurden solche Daten nicht sorgfältig notiert. Nun sollen sie ihr langjähriges Zuhause verlassen. Ausgerechnet in einem Holzsarg.
Farouch reisst sein Maul auf, faucht wie ein Löwe. Cléo ist abgetaucht. «Mit Cléo habe ich eine sehr enge Verbindung. Ich dachte, dass wenigstens sie es mir leicht mache», sagt Michel Ansermet, der die Krokodile seit acht Jahren betreut. Er steht gelassen mit Gummistiefeln, die ihm fast bis zum Schritt reichen, und einem Bambusstecken im Gehege. Anfangs lagen die eleganten Tiere ruhig nebeneinander. Mittlerweile ist die Situation angespannt, die halbe Fensterfront mit einer Kreissäge aufgeschnitten, und etliche Menschen befinden sich in Beissnähe der Krokodile. Wenn Cléo und Farouch bloss wüssten … Wüssten, dass sie in ein neues, viel grösseres Daheim einziehen dürfen. Nur zwei Kilometer entfernt ist im Norden Lausannes das grösste Süsswasser-Aquarium-Vivarium in Europa entstanden, ein Ort für Fische und Reptilien. Am Samstag ist die Eröffnung von Aquatis.
Im Süsswasser-Paradies
Aquatis setzt auf Süsswasser. In der neuen Attraktion am Genfersee reist der Besucher durch die wichtigsten Süsswasser-Ökosysteme der fünf Kontinente. Aber warum Süsswasser? Ist das nicht langweilig? In den berühmten Aquarien dieser Welt schwimmen Haie über unseren Köpfen. Wenn schon klein, dann bitte bunt. So wie Nemo, der Clownfisch, oder Dori, der Doktorfisch. Aber auch diese Fische leben in Korallenriffen im Meer. Im Salzwasser. Doch ein maritimes Museum passt nicht zur Schweiz. Aquatis will zeigen, dass Süsswasser ganz und gar nicht langweilig ist. «Süsswasser ist eine der wichtigsten Ressourcen, die wir haben, und sie wird am wenigsten geschützt», sagt Mitgründer Frédéric Pitaval. Nur drei Prozent des Wassers auf der Erde ist Süsswasser. Mit Aquatis will man den Besuchern die tierische Vielfalt, aber auch die Zerbrechlichkeit der Ökosysteme zeigen. Sie für Probleme wie Klimawandel, Gletscherschmelze, Verschmutzung und bedrohte Lebensräume sensibilisieren. Fühlt man sich dann schlecht nach dem Besuch? «Wir sagen nicht, wer schuld ist. Wir zeigen lediglich auf», sagt Pitaval. Die Leute sollen verstehen, dass die verschiedenen Ökosysteme zusammenhängen und alles miteinander verbunden ist.
Wo sind die Fische? Wann kommen sie endlich?
Vor 17 Jahren hat der Biologe und Ingenieur für Wasserkultur aus Frankreich die Idee für ein didaktisches Süsswasser-Aquarium. Er reist in die Schweiz, sucht Investoren. 2005 erhalten sie den Zuschlag bei einer Ausschreibung der Stadt. 2009 steigt die Hotelgruppe Boas ins Projekt ein, es wird ein Komplex aus Parkhaus, Hotel und Aquarium geplant. 2015 wird das Hotel eröffnet – und nun nach drei Jahren Bauzeit die Süsswasserwelt im kreisförmigen Gebäude mit der silbrig schimmernden Fassade. Sie besteht aus 100 000 Aluminiumplättchen, die sich im Wind drehen und damit an die Bewegung des Wassers und gleichzeitig an die Schuppen der Fische erinnern. Der 66 Millionen Franken teure Bau wird zwei Millionen Liter Süsswasser, 20 verschiedene Ökosysteme, 46 Aquarien/Vivarien/Terrarien, 100 Reptilien und 10 000 Fische enthalten.
Vom berühmten Meeres-Aquarium in Monaco konnte man Angélique Vallée-Sygut gewinnen. Die Direktorin rechnet im ersten Jahr mit 450 000 Besuchern. In den Folgejahren mit 380 000. Vorab gab es bereits ein Geraune wegen des Eintrittspreises von 29 Franken. «Es handelt sich nicht um ein reines Museum, Aquarium, Vivarium oder einen Zoo. Aquatis will mit einer modernen Szenografie Wissen vermitteln und bewusst eine grosse Anzahl Tiere präsentieren – was aufwendig ist», rechtfertigt Vallée-Sygut.
Und 14 Prozent des Erlöses aus dem Ticketverkauf würden als Vergnügungssteuer an die Stadt fliessen. Lausanne möchte sich vermehrt im Freizeittourismus positionieren, da passe das Aquarium perfekt, heisst es bei Tourismus Lausanne auf Anfrage. Man hofft vor allem auf heimische Gäste aus der Schweiz.
Doch im Moment kommt keiner. Als Pitaval durch den Parcours führt, sind die Ausstellungsflächen noch Baustelle, Farbe trocknet an den Wänden, Handwerker bohren in jeder Ecke, Deko wird befestigt, Technik programmiert. Bewohner hinter den Glasscheiben sucht man vergeblich. Algen haben sich bereits gebildet, Seegras wiegt hin und her. Doch wo sind die Fische? Wann kommen sie?
Das fragt sich Pitaval, Chef der Fische, auch. Tag für Tag kommen neue Gäste an. Doch die Planung ist nicht einfach, es handelt sich eben nicht um herkömmliche Ware. Pitaval wartet auf einen Transport aus Norddeutschland. Vielleicht hängt der Lieferant am Zoll fest.
Plötzlich der Anruf: Der weisse Transporter steht draussen. Styroporkisten werden ausgeladen. «Live Tropical Fish» und «24 Grad» steht darauf. Pitaval und sein Team ritzen das braune Klebeband auf, heben die Plastiksäcke heraus, prüfen, ob die Fische leben. «Sie sind ganz ruhig und grau», erklärt Pitaval. Etwa zehn Stunden harrten die Mbuna Fische aus dem Malawisee in der Dunkelheit aus, bewegten sich kaum. Daher der Farb- und Vitalitätsverlust. Die Wassertemperatur des Afrika-Aquariums wird gemessen. «pH-Wert?», ruft einer. Weichen die Werte zu sehr vom Transportwasser ab, kann es sein, dass die Fische einen Schock erleiden. Doch diese Fische dürfen direkt in ihr neues Heim.
Sogar Nachwuchs gab es in der Quarantäne
Das geht nicht allen so. Derzeit warten Tausende in der Quarantäne in provisorischen Becken. Sie reisten aus der ganzen Welt an. Einer der ersten Gäste war ein Alligatorhecht aus einem Aquarium in Singapur. Ausgewachsen werden diese an Krokodil erinnernde Fische bis zu drei Meter lang, in freier Wildbahn leben sie im Mississippi. Besuchermagnet werden auch die Piranhas aus dem Amazonas sein, die jetzt noch in dunklen Bassins lauern. Bei den wunderschön gemusterten Süsswasserrochen musste man die Männlein von den Weibchen trennen, weil sie in der Quarantäne nur an das eine dachten: Fortpflanzung.
Heimische Fische wie die Trüsche aus dem Genfersee oder der amerikanische Saibling, der sich in unseren Gebirgsseen tummelt, müssen sich nicht vor südamerikanischen Kalibern oder afrikanischen Buntbarschen verstecken. Deshalb widmete man der europäischen Wasserwelt die gesamte erste Etage. Zu Recht. Denn in unseren Seen gibt es Arten in der Tiefe, die kaum jemand je gesehen hat.
Der Komodowaran Naga gilt als Highlight
Neben den Fischen werden hundert Reptilien im Aquatis einziehen. Ein Grossteil wird vom Vivarium in Lausanne übernommen. Die Reptilien-Institution wurde in den 1970er-Jahren vom Abenteurer Jean Garzoni gegründet, zuletzt von Michel Ansermet geführt und 2015 aus finanziellen Gründen geschlossen. «Ich bin kein Zoologe, habe keine wissenschaftliche Ausbildung», sagt Ansermet. Doch seine Liebe galt immer den Reptilien. Allen voran den Schlangen.
Mit neun Jahren brachte er die erste Giftschlange mit nach Hause. Um den Hals trägt er das Tier als Goldketteli, auf seinem Shirt einen Schlangen-Print. Ansermet zieht mit zwei Dritteln seiner Schützlinge ins Aquatis und wird dort Kurator der Landtiere. Die anderen Tiere vermittelt er an Zoos oder Privatpersonen. Derweil weilen seine Reptilien noch im alten Vivarium. Solange im Aquatis gebohrt und gehämmert wird, wären die Tiere Lärm und Stress ausgesetzt. Das alte Reptilienhaus ist ziemlich heruntergekommen, nun auch halb verlassen.
Der Komodowaran Naga ist auch schon weg. Das 6-jährige Männchen nahm seinen Umzug ins 66-Millionen-Luxus-Resort gelassen. Fernsehteams aus Frankreich, die gesamte Handwerkerschar und die Direktorin Angélique Vallée-Sygut haben sich vor der grossen Glasfront versammelt. Alle warten. Naga soll bald ins Gehege kommen.
Doch noch schleifen Handwerker eifrig in der Anlage. Ansermet läuft mit Plastikbox und Zange durch und verteilt Welcome-Snacks. Mäuse und Ratten in allen Grössen. Alle Blicke auf die Luke. Wird die Riesenechse gleich wie ein Monster in ihr Terrarium hetzen? «C’est vraiment un dragon», sagt ein erstaunter Handwerker, als sich die Klappe öffnet und das Tier sich gemächlich reinbewegt. Im Französischen und auch im Englischen nennt man die urzeitlichen Riesenechsen «dragon». Wenn ein Tier einem Drachen oder einem Dinosaurier gleicht, dann wohl diese riesige Giftschlange mit Beinen, die auf der kleinen Insel Komodo zwischen Asien und Australien lebt.
Komodowarane sind primär Einzelgänger, bei den Weibchen kann es zu einer sogenannten Jungferngeburt kommen. Sie können sich auch ohne Männchen fortpflanzen. Auch Naga wurde im Prager Zoo durch eine solche Jungfernzeugung geboren.
Gemütlich, aber wachsam erkundet die 2,60 Meter lange Riesenechse mit ihrer Zunge ihr neues Territorium. Sie hebt sich mit ihrem grau-beigen Ton kaum von den Farben im Gehege ab. Perfekt getarnt.
Naga schiebt ihren massigen Körper mit der gefalteten Haut durchs Gehege, frisst hin und wieder eine Maus. «Quelle belle bête», sagt die Direktorin. Was für ein schönes Biest.
Anfahrt: Das Aquatis befindet sich in Lausanne-Vennes direkt an der A9, Haltestellte Vennes, Metro Linie 2.
Öffnungszeiten: Ganzjährig geöffnet. Jeweils am ersten Donnerstag im Monat hat es bis 21 Uhr offen.
Preise: Das Tagesticket kostet 29 Franken, Kinder zwischen 5 und 15 Jahren zahlen 19 Franken. Ein Jahrespass kostet 149 Franken, für Kinder 99 Franken.
Route de Berne 144, Lausanne-Vennes www.aquatis.ch
Anfahrt: Das Aquatis befindet sich in Lausanne-Vennes direkt an der A9, Haltestellte Vennes, Metro Linie 2.
Öffnungszeiten: Ganzjährig geöffnet. Jeweils am ersten Donnerstag im Monat hat es bis 21 Uhr offen.
Preise: Das Tagesticket kostet 29 Franken, Kinder zwischen 5 und 15 Jahren zahlen 19 Franken. Ein Jahrespass kostet 149 Franken, für Kinder 99 Franken.
Route de Berne 144, Lausanne-Vennes www.aquatis.ch
Am Eröffnungswochenende haben rund 6500 Menschen das neue Aquarium Aquatis in Lausanne besucht. Im grössten Süsswasser-Aquarium-Vivarium Europas sind auf 3500 Quadratmetern 10'000 Fische zu sehen.
Entsprechend zufrieden zeigten sich die Betreiber der Anlage. Die 6533 Eintritte an den ersten beiden Tagen würden zeigen, dass ein grosses Interesse der Bevölkerung bestehe, heisst es in einer Mitteilung.
Das Projekt Aquatis kostete gesamthaft gegen 100 Millionen Franken statt der ursprünglich budgetierten 63 Millionen Franken. Von der Idee bis zur Verwirklichung vergingen rund zehn Jahre; die Eröffnung musste mehrmals verschoben werden.
Hinter dem Projekt steht die Gruppe BOAS, die Thermalbäder und Wellness-Anlagen etwa in Yverdon-les-Bains (VD) oder Saillon (VS) besitzt. Ihre Ziele sind ambitioniert: Im ersten Jahr werden rund 450'000 Besucherinnen und Besuchern angepeilt. Damit soll Aquatis zu einer der meistbesuchten Tourismus-Attraktionen in der Romandie werden.
Am Eröffnungswochenende haben rund 6500 Menschen das neue Aquarium Aquatis in Lausanne besucht. Im grössten Süsswasser-Aquarium-Vivarium Europas sind auf 3500 Quadratmetern 10'000 Fische zu sehen.
Entsprechend zufrieden zeigten sich die Betreiber der Anlage. Die 6533 Eintritte an den ersten beiden Tagen würden zeigen, dass ein grosses Interesse der Bevölkerung bestehe, heisst es in einer Mitteilung.
Das Projekt Aquatis kostete gesamthaft gegen 100 Millionen Franken statt der ursprünglich budgetierten 63 Millionen Franken. Von der Idee bis zur Verwirklichung vergingen rund zehn Jahre; die Eröffnung musste mehrmals verschoben werden.
Hinter dem Projekt steht die Gruppe BOAS, die Thermalbäder und Wellness-Anlagen etwa in Yverdon-les-Bains (VD) oder Saillon (VS) besitzt. Ihre Ziele sind ambitioniert: Im ersten Jahr werden rund 450'000 Besucherinnen und Besuchern angepeilt. Damit soll Aquatis zu einer der meistbesuchten Tourismus-Attraktionen in der Romandie werden.