«Etwas Mut braucht es schon»
So erobern Blinde und Rollstuhlfahrende die Berge

Wandern ist die Lieblingssportart in der Schweiz. Dank barrierefreien Wanderrouten können dies auch Personen mit Behinderung tun. Blick hat zwei Personen bei einer Wanderung begleitet.
Publiziert: 04.06.2024 um 10:17 Uhr
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Aktualisiert: 06.06.2024 um 10:00 Uhr
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David Perren und Susanne Gasser auf der gemeinsamen Wanderung auf dem Zürcher Uetliberg.
Foto: Zamir Loshi
Nikolina Pantic

Wenn Susanne Gasser (47) den Zürcher Uetliberg raufwandert, dann lässt sie mit ihrem Tempo alle hinter sich zurück. Begleitet wird sie von Hund Malia, einem Langstock und einer GPS-App, die ihr vorliest, wo es langgeht. Gasser ist seit ihrem 8. Lebensjahr blind. Für sie noch lange kein Grund, aufs Wandern zu verzichten. «Ich bewege mich gerne draussen und verbringe Zeit mit meiner Hündin und anderen Menschen an der frischen Luft», so die Glarnerin zu Blick.

Auf dem Weg vom Uetliberg zur Buchenegg wird Gasser ausserdem von Rollstuhlfahrer David Perren (38) begleitet. Die beiden verbindet die Liebe zum Wandern. «Das erste Mal, als ich mit Susanne auf einer Wanderung war, dachte ich, jetzt läuft sie dann auf einen Abgrund zu», erzählt Perren. Gasser weiss aber genau, was sie tut: «Es braucht schon etwas Mut», sagt sie. «Zu 95 Prozent finde ich mich aber selbst zurecht, oder es kommt mir jemand entgegen, der mir helfen kann.»

Mit Laufstock und Rollstuhl in die Berge

Die neugierigen Blicke der Passantinnen und Passanten zeigen, dass niemand damit rechnet, die beiden auf einem Wanderweg anzutreffen. Trotzdem ist das Aufeinandertreffen mit den «Normalos», wie Gasser witzelt, positiv. «Sie haben Freude, wenn ich am Wandern bin, und finden es gut, wenn ich in einem Restaurant einkehren kann und die Möglichkeit habe, eine schöne Aussicht zu geniessen», ergänzt Perren.

Dank der Organisation Procap und SchweizMobil sollen solche Begegnungen zum Normalfall werden. Sie führen auf ihrer Website 81 barrierefreie Wanderwege für Menschen mit Behinderungen auf. Ein Audioguide – der unter anderem Blinden die Umgebung beschreibt – ist in Planung. «Es ist ein Kernanliegen unserer Organisation, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Möglichkeiten in der Freizeit und im Sport haben wie alle anderen auch», sagt Sonja Wenger, Kommunikationsverantwortliche bei Procap.

Gasser wandert unter anderem so flink dank der MyWay Pro-App. Mittels GPS und gesprochenem Text weiss sie, zu welchem Punkt sie als Nächstes laufen muss. Auf Gefahren wie steile Abhänge wird sie mit Warnungen hingewiesen. Falls sie vom Weg abkommen sollte, korrigiert die App, indem sie die Richtung angibt.

Gasser ist nie ohne ihren Hund unterwegs auf ihren Touren. «Dass eine vollständig blinde Person alleine ohne Hund solche Strecken laufen kann, bezweifle ich», erklärt Gasser. Das GPS ist nur bis auf ungefähr +/- 15 Meter genau. «Allerdings kann es für mich überall gefährlich sein, sobald ich mich bewege», fügt sie hinzu. «Ein bisschen Mut braucht es deshalb immer», sagt Gasser, die Herausforderungen mag.

Ein kleiner Teil von etwas Grossem

Die Existenz der barrierefreien Wanderwege ist auch für David Perren sehr wichtig. Er wuchs in Zermatt VS auf und liebt Wandern seit seiner Kindheit. Seit seinem 22. Lebensjahr ist er nach einem Autounfall auf einen Rollstuhl angewiesen.

Er kenne in seinem Heimatort viele Plätze, die er heute nicht mehr erreichen kann. «Ich habe eine kleine Tochter, und es wäre schön, wenn ich ihr in ein paar Jahren diese Plätze zeigen könnte. Das ist nicht mehr möglich», so Perren. Die barrierefreien Wanderwege seien aber ein ähnlich schönes Erlebnis. Man habe Zeit zu schauen, was die Natur zu bieten habe, schwärmt er.

Probleme habe Perren auf den barrierefreien Wanderwegen bisher keine gehabt. Die grösste Hürde sei weiterhin die Zugänglichkeit. «Es gibt viele Restaurants, die keine passende Infrastruktur verfügen», erklärt er. Darum werden die Wanderwege durch Informationen wie zugängliche Toiletten, Steigungen und barrierefreie Anreisemöglichkeiten ergänzt. Dinge, die für Menschen ohne Behinderung kein Hindernis sind, jedoch für Personen mit Behinderung Zeit und viel Planung benötigen.

Dass ein solcher Ausflug einiges an Organisation benötigt, zeigt sich bei der Heimreise nach dem gemeinsamen Ausflug. So muss David Perren sich eine Stunde im Voraus bei der SBB melden, um anzukündigen, welchen Zug er nehmen möchte. Eine Entscheidung, die bei Personen ohne Behinderung meist spontan fällt.

Die Schwierigkeit mit der Umsetzung

Obwohl Wandern die beliebteste Freizeitaktivität der Schweizer Bevölkerung ist, wurden die barrierefreien Routen erst 2013 entwickelt. Seit 2019 steht das Projekt in Zusammenarbeit mit SchweizMobil unter der Leitung von Procap Schweiz. Jährlich kamen bisher nur eine Handvoll weiterer Routen dazu, denn die Kosten liegen laut Wenger allein für die Erstbegehung und Dokumentation bei über 5000 Franken pro Weg. «Allerdings erhält das Projekt nun mehr Dynamik. Seit zwei Jahren unterstützt Porsche Schweiz AG den Ausbau der barrierefreien Wanderwege», ergänzt sie.

David Perren stimmt zu. Laut ihm braucht es eine Person, die das Projekt antreibt. Oft seien das Selbstbetroffene oder das Umfeld von Menschen mit Behinderungen. Das Zögern bei der Umsetzung sei nur schwer nachvollziehbar, sagt Wenger: «Wir sprechen hier schliesslich von 22 Prozent der Bevölkerung. Dennoch hat es Jahrzehnte gedauert, um in Bezug auf die Inklusion von Menschen mit Behinderungen überhaupt an den Punkt zu gelangen, an dem wir heute stehen. Es darf nicht nochmals so lange dauern, bis Betroffene tatsächlich gleiche Chancen und Möglichkeiten im Leben haben.»

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