In 20 Minuten bin ich in Asien. Auf der Bosporus-Fähre hat es kaum Passagiere an diesem Sonntagmorgen. Am Ufer ziehen die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und der Topkapi-Palast vorbei. Ich versuche, ein Selfie zu schiessen, doch Istanbuls Schönheiten wollen partout nicht mit aufs Bild.
Es ist Mitte September, die Stadt schläft noch. Der Hafen von Harem ist ausgestorben, etwas weiter südlich in Kadiköy kriege ich ein anständiges Frühstück: Rührei, Wurst, Käse, frittiertes Gebäck. Dann gibt es keine Entschuldigungen mehr. In vier Wochen will ich in Baku am Kaspischen Meer sein.
Doch zuerst muss ich aus dem Labyrinth Istanbul herausfinden. Das Navigationsgerät beginnt schon bald hilflos zu piepsen. Die Stadt verändert sich schneller als Google Maps. Auf den Hügeln schiessen verspiegelte Hochhäuser in die Höhe. Viele sind nur Gerippe. Ausser Wachleuten ist kein Mensch zu sehen. Am Fuss der Hügel hausen Familien in Blechhütten, Kinder spielen in der Kloake.
Das Navi hat die Orientierung wieder gefunden, lotst mich durch die Vorstände, dann lande ich auf der Autobahn Richtung Schwarzmeerküste. Ich strample auf dem Pannenstreifen, türkische Familien sind unterwegs zu einer Landpartie. Manche hupen, nicht weil ich nicht auf der Autobahn fahren dürfte, sondern aus Freude am Hupen.
Nach zwei langen Rampen bekomme ich Hunger. Bei Ömerli kehre ich in eine der Bretterbuden am Strassenrand ein. Beim Eingang dampft ein Teekessel, im Wäldchen dahinter sitzen Familien auf Bänken und picknicken. Fatima, die Wirtin, bringt mir eine Decke, damit ich nicht friere. Ich trinke Tee mit ihrer Familie.
Agva ist meine erste Station, ein hübscher Touristenort mit endlosem Sandstrand, zwei Flüssen, die ins Meer münden, und einer ambitionierten Parkanlage. Doch über die geschwungenen Fussgängerstege flaniert kaum jemand, die Saison ist vorbei, die Liegestühle sind leer, immerhin haben noch einige Hotels und Restaurants geöffnet.
Tief im Berg schlummert die Kohle
Die nächsten Tage fahre ich der Küste entlang. Ich rechnete mit einer gemütlichen Tour, doch es ist eine Tortur. Die Strasse ist schmal und führt ständig rauf und runter. Ich trampe mir die Lunge aus dem Leib und komme doch nur im Schneckentempo voran. Sogar in den Abfahrten bin ich langsam, weil sie zu steil sind, um es richtig brettern zu lassen.
Das gibt Hunger, enormen Hunger. Er treibt mich weg von der einsamen Küste nach Kandira, wo ich auf dem Dorfplatz im Restaurant von Faruk haltmache. Er verbrachte die ersten neun Jahre seines Lebens in Deutschland. Mit 50 ist sein Akzent noch immer tadellos, aber die deutschen Wörter sind ihm abhanden gekommen. Ich bin sein Ehrengast heute, er versorgt mich mit Suppe, Salat, Fleisch, Reis, Joghurt, Süssem und einem türkischen Kaffee. Zum Abschied rauchen wir schweigend eine Zigarette.
So bin ich gestärkt, um wieder in die Hügel zu steigen. Die Küste ist gesäumt von kleinen Dörfern. Für die Bewohner des Hinterlandes sind sie die Zentren. Sie knattern mit Einachsern von den Bergen herunter, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Auf der Ladefläche sitzt die ganze Familie. Alle paar Kilometer hat es Brunnen, an denen die Leute Wasser in Kanister abfüllen.
Tief im Berg schlummern Kohleminen, die Menschen leben vom Bergbau. In Zonguldak, der ersten grösseren Stadt, rumpelt ein Güterzug mit schwarzer Fracht zum Hafen. Ein Teil der Kohle wird gleich vor Ort in Kraftwerken verfeuert. Der Wasserdampf aus den Kaminen legt ein ganzes Tal in eine Dunstwolke, es ist schwül wie in einem Dampfbad.
Ich erreiche Amasra, eine der schönsten Städte der ganzen Schwarzmeerküste. Sie liegt auf einer Halbinsel, schon die Griechen und Römer wussten den natürlichen Hafen zu schätzen. Ich schätze Onkel Mustafas Restaurant, das Fisch und Weisswein serviert und das Champions-League-Spiel Brügge gegen Galatasaray überträgt.
Das Geheimnis der grünen Berge
In den nächsten Tagen finde ich heraus, warum hier alles so herrlich grün ist: weil es häufig regnet. Das Schwarze Meer wird nun wirklich schwarz, der Wind schiebt eine Regenwand nach der anderen an die Küste. Ich verbringe zwei Tage in der Waschmaschine.
Eine Woche nach dem Start erreiche ich Sinop, eine weitere Perle der Küste. Der Sturm ist vorbei, die Leute sitzen in Cafés, trinken Tee und spielen Backgammon, Studenten flanieren am Hafen, die Frauen unverschleiert.
Gerade als ich in Euphorie ausbrechen will, sticht mich der Magen. Abends im Hotel sticht er noch immer. Ich bin die ganze Nacht auf dem Rad, hetze von Ort zu Ort, überall bietet man mir ein Lager an, doch ich muss weiter. Warum, weiss ich nicht – nur dass ich Fieber hatte und wirres Zeug träumte, weiss ich am nächsten Morgen.
So komme ich zu einem Ruhetag in Sinop. In sengender Hitze trotte ich durch die Stadt. Auf der Hauptstrasse treffe ich Diogenes, der hier lebte und nun eine Statue ist. Weit im Osten, wo immer der Wind herkommt, sehe ich die Küstenlinie im Nichts verschwinden. Meine Reise kommt mir unendlich lange vor. Seit Istanbul habe ich mit kaum jemanden mehr als drei Worte gewechselt: Hallo, danke, auf Wiedersehen, mehr Türkisch kann ich nicht.
Die Türken geben mir alles, was ich brauche, doch wir verstehen uns nicht. Ich komme mir vor wie ein Alien.
Abends taucht die Sonne die Stadt in ein prächtiges rotes Licht. Zuoberst auf der alten Befestigungsmauer sehe ich eine Gestalt, die in Ferne schaut. Dort muss das Spektakel noch grandioser sein, denke ich, und steige rauf. Oben empfängt mich Okan, der Typ, der in den Sonnenuntergang starrte.
Okan begrüsst mich in breitem amerikanischem Englisch, er war bis vor kurzem der Türkei-Chef einer Techfirma. Okan ist aus Istanbul und auf Verwandtenbesuch in Sinop. Er glaubt an Zeichen und Wunder. Dass wir uns hier treffen, kann kein Zufall sein. Also spazieren wir zusammen durch die Stadt, essen, trinken, reden. Er erzählt mir sein Leben und erklärt mir sein Land. Als wir uns verabschieden, bin ich geheilt. Ich bin kein Alien mehr.
Es gibt kein Bier in Anatolien
Nach Sinop wird alles anders. Nicht nur die trüben Gedanken sind weg, die giftigen Pässchen sind es ebenfalls. Von nun an gehts flott voran auf der Autobahn, die zuvor weiter südlich verlief und hier an die Küste stösst. Anfänglich hat es kaum Verkehr. Ich habe die Strasse fast für mich allein. Statt über Berge zu hecheln, durchquere ich sie nun in gut beleuchteten Tüneli.
Die 160 Kilometer nach Samsun schaffe ich an einem Tag. So geht es weiter. Ich jage die Küste entlang, flitze an Küstenorten vorbei. Das ist schön, nach ein paar Tagen aber eintönig. Die Städte beginnen sich zu gleichen, die Abende auch, nur ein Bier zu bekommen, wird immer schwieriger, je weiter nach Anatolien ich gelange.
In Rize begegne ich einem wichtigen Herrn, überall flattern Fahnen mit seinem Bild, die Universität trägt seinen Namen. Im Hafenviertel wuchs er auf, sicher wählen sie ihn hier, wenn er seine Heimatstadt doch so reichlich beschenkt. Doch ich muss an einen Tankwart denken, mit dem ich vor einer Woche Tee trank und auf besseres Wetter wartete. Er konnte so gut Englisch wie ich Türkisch, doch er machte mir als Erstes klar, dass er Tayyip nicht mag. Ich mag die Erdogan-Stadt auch nicht und fahre Richtung Grenze.
Pomp, Protz und Polizeistationen
Georgien empfängt mich mit einem Platten. Als mir die Zöllnerin den Pass zurückgibt, hüpft das Hinterrad erst wie ein Gummiball, dann ist die Luft draussen. Ein schlechter Start, dabei geben sich die Georgier grösste Mühe, Besucher zu beeindrucken.
Das Zollgebäude in Sarpi entwarf ein deutscher Architektenstar, entlang der Strasse sammeln Müllmänner den Abfall ein, und das Seebad Batumi wurde mit Hotelkästen und Casinos zu einem Las Vegas des Schwarzen Meers aufgedonnert. Hier ist alles erlaubt, was in der Türkei verboten ist: Glücksspiel, Prostitution, Alkohol. Und für die Familien gibts eine Strandpromenade mit Palmen, Zuckerguss-Architektur im Zentrum und eine Seilbahn auf den Hausberg.
Zwei Tage erhole ich mich hier, dann verlasse ich die Küste. Entlang der türkischen Grenze fahre ich über den Goderdzi-Pass, der einen Auftritt in einer TV-Serie über die gefährlichsten Strassen der Welt hatte. 50 Kilometer Schotterpiste steigen auf über 2000 Meter an. Gefährlich ist es nicht, dafür wunderschön: Oben sind die Blätter bereits gelb und rot, Indian Summer im Kleinen Kaukasus.
Hinter dem Gebirge beginnt eine neue Welt. Sie ist nicht mehr grün und feucht wie die Küste, sondern braun und trocken wie Nordafrika. Über Achalziche und Ninozminda fahre ich entlang der alten Seidenstrasse über eine kaum besiedelte Hochebene Richtung Tiflis. Es ist die Zeit der Kartoffelernte. Die Bauern sind mausarm. Die Regierung renoviert ihnen vielleicht die Kirche oder stellt ihnen gläserne Polizeistationen in die Dörfer, sonst kommt wenig vom Reichtum hier an.
Hipster-Metropole Tiflis
Tiflis pirsche ich mich von oben an. Ich fliege herein über die Berge, kurve Serpentinen herunter und rolle schliesslich auf dem Rustaweli-Boulevard Richtung Altstadt aus. Durch die Gassen winden sich mit Selfie-Sticks bewaffnete Menschenmassen. In der Kirche wird gleichzeitig geheiratet und getauft, während Touristen das Geschehen filmisch festhalten. Am schönsten ist die Stadt am frühen Morgen, wenn die Hipster ihren Rausch ausschlafen und nur Babuschkas vor der Kirche mit ihren Münzbechern scheppern.
Mit dem realen Georgien hat Tiflis so wenig zu tun wie Batumi. Schon wenige Kilometer weiter östlich ist man aber zurück in der Wirklichkeit. Rustawi ist ein postsowjetischer Albtraum einer Stadt. Die Menschen leben in Plattenbauten, Schwerindustrie verpestet das fruchtbare Grenzland zu Aserbaidschan.
Die aserischen Grenzbeamten nehmen es genau. Ein Übereifriger im Tarnanzug will auch mein Gepäck inspizieren, zottelt aber enttäuscht ab, als ich ihm meine dreckige Wäsche präsentiere. Doch die Zivilisten freuen sich dafür über den Radfahrer. Sie empfangen mich wie den Sieger der Tour de France auf der Ehrenrunde über die Champs-Elysées, hupen, winken und lachen. Die Händler am Strassenrand schenken mir Trauben, wenn ich mal Rast mache.
Wo Touristen noch eine Attraktion sind
Dass Touristen hier noch Attraktionen sind, merke ich auch daran, dass es kaum Hotels hat. Als auch die Motels an der Strasse ausbleiben, werde ich allmählich nervös. Booking ist ebenso ratlos wie ich. In Tovuz klappere ich die Quartiere ab und finde nichts. Doch ausgangs der Stadt zweigt von der staubigen Strasse eine breite Allee ab. Am Ende thront ein Hotelpalast – Blick über den Fluss, Vergnügungspark, livrierte Kellner, 5 Sterne. Im Speisesaal bin ich neben dem Pianisten und ein paar Funktionären der einzige Gast. Ich bestelle die halbe Karte, der Kebab ist ebenso zäh wie im Rest des Landes.
Der Wind treibt mich Richtung Kaspisches Meer. Ich komme so schnell voran, dass ich die direkte Route verlasse und Richtung Norden zum Grossen Kaukasus abzweige. Weit hinten im Dunst erheben sich die 4000er mit ihren kahlen Häuptern, davor erstreckt sich eine Halskrause mit grünen Wäldern.
Beim Überqueren eines kleinen Gebirgszugs fange ich mir noch einen Platten ein. Beim Flicken zerbröseln beide Reifenheber. Noch einen Platten und ich muss auf den Bus wechseln. Ein junger Mann hilft mir, den Pneu mit blossen Händen wieder auf die Felge zu hieven.
Baku Bling-Bling
Die Aseri tuckern auf stinkenden, klapprigen Ladas herum. Der Strassenrand ist von Werkstätten gesäumt, wo die Ladas wieder zusammengebaut werden, wenn sie stehen bleiben. Überall hat es Teestuben. Die Betreiber winken mich zu sich, doch ich kann nicht überall Pause machen, ich muss nach Baku.
In einem zehnspurigen Strom von Autos treibe ich in die Stadt hinein. Eine letzte Anhöhe rauf, dann gehts nur noch runter bis zum Meer. Plötzlich sind die Ladas weg, dafür tauchen jetzt Porsches, Land Rover und Mercedes auf. Baku ist eine Ölmetropole, der Reichtum konzentriert sich auf einen Streifen von drei Kilometern an der Küste.
Immer hatte ich Zweifel, ob ich es bis hierher schaffen würde. Nun bin ich am Kaspischen Meer. Ich würde hemmungslos weinen, den Boden küssen und mein Shirt ins Meer werfen. So hatte ich mir das vorgestellt. Jetzt spüre ich nichts, ausser dass es kalt und windig ist und ich zu frösteln beginne. Ich suche mir ein Hotel und nehme eine lange Dusche. In zwei Tagen kommt meine Frau, die 30 Tage Einsamkeit sind vorbei.
Mit dem Velo die Schweiz entdecken: Ob anspruchsvolle oder einfachere Strecken, an Gewässern entlang oder in den Bergen – es gibt unzählige Möglichkeiten. BLICK hat die schönsten Velowege gesucht – und gefunden!
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Mit dem Velo ist man schnell und flexibel im Strassenverkehr unterwegs. Für eine sichere und angenehme Fahrt gibt es einiges zu beachten.
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An Wochenende oder in den Ferien noch nichts vor? Dann könnten Sie eine kleine oder grössere Velotour planen. Erfahren Sie hier, wie der Ausflug auf zwei Rädern zum sportlichen Vergnügen wird und weshalb Fahrradfahren auch im Alltag etwas bringt.
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