Nordkorea-Expertin Anna Fifield hat jahrelang recherchiert
Wie die Schweiz Kim Jong Un prägte

Niemand kennt das nordkoreanische Regime so gut wie Anna Fifield (43). Soeben hat die Journalistin ein Buch über Kim Jong Un verfasst. Ein Gespräch über eine folgenschwere Weisung von Carla Del Ponte und die Frage, 
wie viel Schweiz im Diktator steckt.
Publiziert: 17.08.2019 um 16:43 Uhr
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Aktualisiert: 22.08.2019 um 10:50 Uhr
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Anna Fifield leitet das Peking-Büro und veröffentlichte vor kurzem ein Buch über Kim Jong Un. Sie sagt: «In Bern war er ein Niemand. Ohne den ganzen Personenkult war er nur ein molliges Kind, das lieber Videogames spielte, als Hausaufgaben zu machen.»
Foto: ATHOLE MCLAUCHLAN
Simon Marti, Benno Tuchschmid

Wer ist Kim Jong Un?
Anna Fifield: Ich habe jahrelang recherchiert, bin mir aber immer noch nicht sicher, weil wir so wenig über ihn wissen. In meinem Buch versuche ich, ein möglichst komplettes Porträt zu zeichnen.

Und wie sieht dieses Porträt aus?
Er ist ein junger Mann, der in einem völlig abnormalen Umfeld auf­gewachsen ist, als Teil einer sehr ­disfunktionalen Familie: der Prinz eines totalitären Regimes, der immer ein Leben im Luxus lebte. Er hatte als Kind keine Freunde, war einsam und isoliert, aber früh daran gewöhnt, seinen eigenen Weg zu gehen.

Schon da zeigten sich seine ­Ambitionen?
Bereits mit acht Jahren wurde ihm gesagt, dass er der nächste Führer seines Landes sein würde, Generäle salutierten vor ihm.

Sie beschreiben eindringlich die Jahre, die er in Bern verbracht hat. Wäre er ohne diese Zeit der Mann, der er heute ist?
Seine Zeit in Bern im Alter zwischen 12 und 16 hat ihn stark beeinflusst. Kim und seine Geschwister wurden in die Schweiz geschickt, damit sie so etwas wie ein normales Leben führen konnten. Und die Schweiz wurde aufgrund ihrer Diskretion ausgesucht.

Die Nordkorea-Expertin

Anna Fifield (43) leitet das Peking-Büro der US-Zeitung «Washington Post» und hat mit ihrem Buch über Kim Jong Un ein neues Stand­ardwerk geschrieben. Ihre journalistische Karriere begann sie in ihrer Heimat Neuseeland bei der «Rotorua Daily Post». Mit 24 wechselte sie nach London zur «Financial Times» und arbeitete für die Zeitung unter anderem als Nahost- und als Korea-Korrespondentin. Fifield hat Nordkorea zwölf Mal besucht. 2017 interviewte sie über 25 kürzlich geflohene Nordkoreaner – und zeichnete ein rares Bild des Zustands des kommunistischen Staats unter Kim Jong Un.

Anna Fifield (43) leitet das Peking-Büro der US-Zeitung «Washington Post» und hat mit ihrem Buch über Kim Jong Un ein neues Stand­ardwerk geschrieben. Ihre journalistische Karriere begann sie in ihrer Heimat Neuseeland bei der «Rotorua Daily Post». Mit 24 wechselte sie nach London zur «Financial Times» und arbeitete für die Zeitung unter anderem als Nahost- und als Korea-Korrespondentin. Fifield hat Nordkorea zwölf Mal besucht. 2017 interviewte sie über 25 kürzlich geflohene Nordkoreaner – und zeichnete ein rares Bild des Zustands des kommunistischen Staats unter Kim Jong Un.

Färbte die Schweiz ab auf Kim, den Diktator?
Als er die Macht übernahm, dachten viele, er sei ein Reformer, eben weil er in der Schweiz gelebt und die Vorteile einer liberalen Demokratie gesehen hatte. Ich kam zu einem ganz anderen Schluss: In Bern war er ein Niemand. Ohne den ganzen Personenkult war er nur ein molliges Kind, das lieber Videogames spielte, als Hausaufgaben zu machen. In Nordkorea konnte er das tun und galt immer noch als Genie. In der Schweiz lernte er eine Merito­kratie kennen, wo man sich seinen Platz verdienen muss.

Und er hatte Mühe mit der Sprache.
Er sprach weder Deutsch noch Englisch, als er ankam. Ich denke, dass er merkte, dass er am nord­koreanischen System festhalten muss, um seine Sonderstellung und Privilegien zu bewahren.

Wussten die Behörden, wer er ist?
Die Schweizer Behörden wussten genau, wer er war. Der Schweizer Geheimdienst überwachte seinen Onkel und seine Tante, bei denen Kim Jong Un in der Schweiz wohnte. Auch seine Mutter wurde beschattet, wenn sie in die Schweiz flog. Doch Kim Jong Un selbst blieb unangetastet. Die damalige Bundesanwältin Carla Del Ponte gab die Order: Kinder sollen Kinder sein und eine Privatsphäre haben.

War das ein Fehler?
Kim in der Schweiz nicht zu überwachen, war eine verpasste Gelegenheit. Zu dieser Zeit wusste man zwar nicht, dass er der nächste Führer Nordkoreas werden würde. Hätte man aber über ihn und die ­anderen Kinder der Familie Informationen ­gesammelt, hätte man mehr über ihn gewusst, als er ­seinem ­Vater an der Spitze von Nord­korea nachfolgte.

Sein Onkel und seine Tante, die mit ihm in der Schweiz lebten, flohen 1998 in die US-Botschaft. Waren die Schweizer Behörden informiert über diese Flucht?
Nicht im Vorfeld. Die beiden n­ahmen mitten in der Nacht ein Taxi zur US-Botschaft in Bern und ersuchten um Asyl. Sobald sie in der Botschaft waren, informier­ten die Amerikaner die Schweizer Behörden. Es wurde vereinbart, dass die Schweiz sich gegenüber der nordkoreanischen Regierung ahnungslos stellen würde. Dann wurden Kims Familienmitglieder über die Grenze nach Deutschland zu einem US-Luftwaffenstützpunkt gefahren.

Sie schreiben, dass die meisten Experten, auch Sie, Kim Jong Uns raschen Fall erwarteten, als er nach dem Tod seines ­Vaters 2011 die Macht übernahm. Warum lagen Sie falsch?
Die nordkoreanische Führungsriege war damals voller 80-Jähriger, die seit Jahrzehnten auf ihren Posten sassen. Ich konnte mir nicht vor­stellen, dass diese Männer einen 27-Jährigen ohne Erfahrung und Qualifikationen tolerieren würden. Ein wichtiger Grund für mich, dieses Buch zu schreiben, war es zu zeigen, wie er es geschafft hat, so strategisch vorzugehen. Und so brutal.

Wie gelang es ihm?
Alle haben unterschätzt, wie überlegt er ist. Er nützte die alte Garde aus. Sie halfen ihm erst, das Land zu kontrollieren. Sobald sie diesem Zweck gedient hatten, beseitigte er jeden Einzelnen. Seinen eigenen Onkel liess er öffentlich hinrichten. Diese Rücksichtslosigkeit könnte ein Grund gewesen sein, warum ihn sein Vater zum Nachfolger bestimmte.

Sie beschreiben auch den wirtschaftlichen Wandel des Landes unter Kim. Hat er das Leben der Menschen verbessert?
Die Einführung marktwirtschaft- licher Elemente markiert den grössten Wandel in Nordkorea in den letzten 70 Jahren. Der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung geht es ein kleines bisschen besser. Kim tat das aber nicht, weil er sich um die Menschen sorgt. Er tat es, um an der Macht zu bleiben. Die Eliten in Pjöngjang hingegen, die ihn unterstützten, werden immer reicher. Sie haben ein grosses Interesse, dass er ihnen erhalten bleibt.

Trotzdem: In Nordkorea gibt es heute so etwas wie eine Mittelschicht. Ist das für Kim Jong Un eine Gefahr?
Absolut. Kim Jong Un steht ein heikler Balanceakt bevor. Einerseits braucht er eine wachsende Wirtschaft. Gleichzeitig kommen mit mehr Handel und Wachstum auch Informationen ins Land. Und es wird immer schwieriger, diese Informationen unter dem Deckel zu halten. Die gefährlichste Zeit für Kim Jong Un kommt erst noch. Das könnte er aus seiner Schulzeit in der Schweiz her wissen.

Wieso?
Ich sah mir in Bern den Lehrplan an, der an Kim Jong Uns Schule ­unterrichtet wurde. Die Französische Revolution war Teil davon. Wenn er in der Schule aufgepasst hat, weiss er also, dass unerfüllte ­Erwartungen in der Bevölkerung zu Revolutionen führen können.

Wie realistisch ist denn ein Sturz von Kim Jong Un in der nahen Zukunft?
Nicht sehr realistisch. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass Kim Jong Un bald verschwindet. Innert kürzester Zeit hat er Nordkorea zur Atommacht ­gemacht und den US-Präsidenten Trump zu seinem Chef-Erklärer.

Es sieht fast so aus, als würden Trump und Kim sich mögen. Tun sie das wirklich?
Donald Trump denkt sicher, dass er und Kim gut miteinander auskommen. Kim Jong Un sieht das pragmatisch: Er weiss, dass er nicht mehr so schnell einen so unkonventionellen US-Präsidenten als Gegenüber erhalten wird, und versucht, ihm so viele Zugeständnisse wie nur möglich abzuringen. Mit Erfolg.

Wie meinen Sie das?
Trump betreibt PR für Kim und ­erklärt der Welt seine Handlungen. Das Einzige, was es dazu von Kim braucht, ist ab und zu ein ­Liebesbrief an Trump. Ernsthafte Zugeständnisse musste er bis jetzt keine machen.

Das klingt kühl berechnend. Wieso wird dann Kim trotzdem immer als diese lächerliche Comic-Figur dargestellt?
Er hat natürlich etwas Komödienhaftes mit seinen Hüten und Anzügen. Aber eine der Hauptbotschaften in meinem Buch ist tatsächlich: Wir sollten Kim Jong Un nicht unterschätzen. Er ist brandgefährlich – für sein Volk und für die Welt.

Was hält Kim Jong Un wohl vom Aufstand in Hongkong?
Zwei Monate nach seiner Amtsübernahme zogen Aufständische den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi aus einem Graben und ­ermordeten ihn. Kim Jong Un hat grosse Angst vor einem Umsturz. Ich bin mir daher sicher, dass er die Vorgänge in Hongkong sowie Pekings Reaktion sehr genau beobachtet.

Der Schweizer Nationalrat Claude Béglé reiste vor kurzem nach Nordkorea und äusserte sich positiv überrascht von den Lebensumständen der Nordkoreaner. Die nordkoreanische Presse schlachtete die Reise aus. Wieso interessiert sich das Land für einen Schweizer Hinterbänkler?
Herr Béglé mag in der Schweiz ein unwichtiger Politiker sein, die nordkoreanische Presse aber kann ihn problemlos zu einem politischen Schwergewicht hochschreiben, das dem Regime seine Ehre erweist. Sie versucht, mit der Hilfe ausländischer Besucher immer wieder das Bild zu vermitteln, dass das Ausland Nordkorea bewundert.

Aber glaubt das die Bevölkerung?
Die meisten Menschen in Nord­korea wissen heute, dass das Regime auf Lügen basiert. Aber was sollen sie tun? Ich habe mit Flüchtlingen ­gesprochen, die das Regime hassen, und sie sagen alle: Man kann Nordkorea nicht von innen heraus revolutionieren. Wenn man als Nord­koreaner eine Story wie jene über den Schweizer Parlamentarier ­öffentlich anzweifelt, dann kann das die ganze Familie lebenslänglich in den Gulag bringen. Wer nicht einverstanden ist mit dem System, denkt nicht an Revolution. Er flieht.

Sie waren zwölf Mal in Nordkorea. Können Sie noch zurück nach diesem Buch?
Ich denke nicht, dass man mich noch ins Land lässt. Und falls doch, würde ich wohl nicht gehen. Ich werde Nordkorea erst nach der Wiederver­einigung wiedersehen. Das war der Preis, den ich bereit war zu zahlen. 

Anna Fifield: «The Great Successor», John Murray (Publishers). Anfang 2020 erscheint eine deutsche Übersetzung bei Edition Körber.

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