Nach sechs Jahren des Verschwindens hinter groben Bauzäunen scheint sich die Neue Nationalgalerie am Potsdamer Platz in Berlin auf wundersame Weise erweitert zu haben. Das Museum von Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), legendärer letzter Bauhausdirektor, entstand zwischen 1965 und 1968. Das Glas-Stahl-Gebäude, mit 52 Jahren marode geworden, sanierte der britische Star-Architekt David Chipperfield (67) mit Respekt für sein grosses Vorbild und 140 Millionen Euro.
Mies van der Rohes revolutionäre Idee: Die Kunst des 20. Jahrhunderts bedurfte keines Tempels, sondern eines Raumgefüges – aussen und innen sollten ineinanderfliessen. Und so geschieht es, dass man drinnen jetzt vor der roten Skulptur «Five Swords» des US-Skulpteurs Alexander Calder (1898–1976) steht und gleichzeitig draussen auf die Potsdamerstrasse guckt, verbarrikadiert von einer hässlichen Baustelle.
Ein Glashaus für Skulptur, Malerei, Installation und Film
Nähert sich der Besucher der Neuen Nationalgalerie, erwartet ihn ein grosses gläsernes, lebendiges Kleinod, offen für die Menschen, offen für die Kunst, offen für Licht und Schatten. Zur Wiedereröffnung sind angetreten die Granden der grossen Kunstfamilie: Skulptur, Malerei, Installation, Film. Den Empfang in der Riesenhalle macht Alexander Calder mit «Minimal/Maximal». Kein Zweiter wusste so elegant mit grazilen Mobiles zu spielen wie mit bodenständigen Stahlformen. Geschützt in Glaskästen stehen allerliebste Gebilde, Kinderspielzeug für Erwachsene. Aber nur zum Angucken. Dirk Lohan erzählt, dass sogar ihm als Enkel Calders das Berühren der Miniaturen verboten war.
Das unendliche Raumgefühl führt ins Untergeschoss. Man folgt der Entstehung der Neuen Nationalgalerie, beginnend mit der Skizze Anfang 1960, über Baubeginn 1965, zur Eröffnungsfeier 1968. Durchstreift die Fotogalerie der Renovation mit Aushöhlung, Materialaufwand, gigantischem Gerüstbau. Steht unversehens vor hochkarätigen Gemälden aus der Sammlung, unter dem Motto «Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945», weiträumig zusammengestellt. Die bedeutendsten Künstler aus Europa, den USA, der Schweiz spiegeln Deutsches Kaiserreich, Kolonialzeit, Erster Weltkrieg, «Die Goldenen Zwanziger», Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Holocaust. Rund 250 Werke, darunter altbekannte von Klee, Picasso, Hodler, Dalí, Beckmann, Dix, Munch.
Auch zeitgenössische Kunst findet statt
Den zeitgenössischen Kommentar dazu liefert der brillante fiktionale, dystopische Schwarz-Weiss-Film «Deep Gold» (2013/2014) des deutschen Filmkünstlers Julian Rosefeldt (56). Deep Gold heisst die Kellerbar, in der sich Menschen ihrem perversen Vergnügungsrausch hingeben, um zu vergessen, dass ihre Stadt nur noch Kulisse ist und sich die letzten Bewohner desinteressiert aus dem Fenster stürzen.
Die Performance der italienischen Künstlerin Rosa Barba (48) heisst «In a Perpetual Now» – Im immerwährenden Jetzt. Ihr geht es um die Auflösung von Vorstellungen wie Raum, Zeit und Dingen. Ein Beispiel: Eine Schreibmaschine tippt Text auf einen leeren Film, die einzelnen Buchstaben erscheinen als Projektion, schliesslich enden die Filmschleifen auf dem Boden.
Ludwig Mies van der Rohes Wahlspruch lautete: Das Museum sollte Ort der Freude sein und kein Friedhof für die Kunst. Lächelnd und energisch erfüllt die Neue Nationalgalerie diesen Wunsch.