«Wer den Ort fände, wo er Rast zu halten vermöchte, ohne seine Sehnsucht zu verraten, den Ort, wo ihm das Gewöhnliche zum Besonderen würde und das Einzelne zum Einen, der hätte Heimat gefunden, auch wenn er ein Asylant wäre.» Der Satz findet sich in «Glarus - Einfach», einem Text/Bild-Band, erschienen 1994 in der Reihe «Die grossen Heimatbücher» beim Haupt Verlag Bern.
Es ist ein Heimatbuch der anderen Art, voll ungewohnter Perspektiven und neuer Töne - «eine Art Rechenschaftsbericht über den jahrzehntelangen Umgang mit einem Gebiet und einer Gesellschaft», wie Fridolin Walcher und sein Mitautor Otto Brühlmann in der Einleitung zu ihrem Buch festhielten. «Glarus - Einfach» war seine erste grosse Arbeit als Fotograf.
«Wer den Ort fände»: Wer Fridolin Walcher heute begegnet, hat den Eindruck, dass ihm dies gelungen ist. Wenn er vom Glarnerland spricht, nennt er es «mein Tal» und die Wärme in seiner Stimme ist unüberhörbar. Gleichzeitig bricht er immer wieder in die Ferne auf, um dort alles aufzusaugen wie ein Schwamm. «Es ist ein Geschenk, andere Reize um sich zu haben.» Dann kehrt er wieder heim und stellt jedes Mal von neuem fest, wie schön es da ist.
Fridolin Walcher wird bald 67. Gerade bereitet er sich auf einen mehrwöchigen Aufenthalt in Grönland vor, wo er sich fotografisch zuerst mit Forschungen zur Klimaerwärmung und Gletscherschmelze beschäftigen wird. «Anschliessend werde ich noch eine Weile in einem Inuit-Dorf daheim sein.» Auf einer Grönlandkarte zeigt er, wo genau er hinfahren wird, und die exotisch klingenden Ortsnamen kommen ihm schon ganz selbstverständlich über die Lippen. Draussen vor den Fenstern ragen die steilen Hänge des Glarnerlands in die Höhe.
Dass es jenseits der Berge andere Welten gibt, hat Fridolin Walcher schon früh realisiert. Er ist in Braunwald aufgewachsen, der Sonnenterrasse hinten im Tal, mit Blick auf die silbern schimmernde Kuppe des Tödi. Der Vater starb direkt nach Fridolins Geburt, die Mutter arbeitete als Handweberin, vermietete Ferienwohnungen und nahm Pflegekinder auf. «Die Welt kam zu uns», sagt Fridolin Walcher.
Und dann war da ein Nachbar, Emil Brunner hiess er, ein berühmter, weitgereister Fotoreporter. Von ihm kaufte der junge Fridolin Walcher seine erste Kamera, um dann selber mit neugierigem Blick in die Welt hinauszuziehen.
Bereits mit 16 Jahren reiste er mitten im Kalten Krieg in die Sowjetunion und fotografierte in Moskau und Leningrad. Acht Jahre später, nach Abschluss des Lehrerseminars, brach er auf nach Westafrika. «Ich fuhr nach Marseille und löste im Hafen ein Billett nach Dakar.» Ein Jahr später war er wieder im Glarnerland.
Vorangegangen war diesen ersten Aufbrüchen allerdings eine Heimat-Krise. 13-jährig war Fridolin Walcher, als er das Gymnasium im Hauptort Glarus zu besuchen begann und unter der Woche dort wohnen musste, weil der Schulweg zu lang war.
Nach den Kindheitsjahren in luftiger Höhe fand er sich nun eingekesselt von hohen Felswänden wieder. Die Energie in den Wänden um ihn herum zu entdecken, brauchte Zeit. «Ich erlebe es als stärkend, die Wände im Rücken zu haben», pflegt Fridolin Walcher heute zu sagen. Vor acht Jahren hat er ihnen einen Bildband gewidmet, «Vertikale Ebenen», eine intime Annäherung an die Welt der Klüfte und Schrunden, Bänder und Zacken.
Weil Fridolin Walcher einer ist, der sich einlässt auf das, was ihm begegnet, weil er genau und lange hinsieht, nimmt er nicht nur die Schönheit der Landschaft in seinem Tal wahr, sondern auch ihre Verletzlichkeit. «Unsere Lebenswelt ist immer noch kleinräumig strukturiert, lebendig und vielfältig. Aber das wird zu wenig erkannt. Wir wissen nicht, was wir daran haben.»
Früher ging er deswegen auf die Barrikaden, machte mit Gleichgesinnten Polittheater, drehte ein kritisches Video - um einen Panzerschiessplatz zu verhindern oder die Nagra zu verscheuchen. Ein ungeduldiger Draufgänger sei er in jungen Jahren gewesen, sagt Fridolin Walcher rückblickend. Mit dem Älterwerden sei die Ungeduld dann dem Vertrauen gewichen - «dem Vertrauen in den Rhythmus des Lebens und die Kraft der Bilder».
Heute fotografiert er, was er wahrnimmt, was ihn beschäftigt, und macht das Ergebnis öffentlich. Damit alle wissen, um was es ihm geht, und sich bewusster mit ihrer Umgebung auseinandersetzen. Das ist seine Form der Teilnahme. «Ich erlebe es als Pflicht, meine Sicht der Dinge den anderen darzulegen. Welche Konsequenzen sie dann daraus ziehen, ist ihre Sache - da habe ich gelernt loszulassen.»
Fridolin Walcher ist zum Chronisten geworden. Er hält das Ende eines grossen Spinnereibetriebs fest, er zeigt schmelzende Gletscher in ihrer ganzen Fragilität oder porträtiert mächtige Bergahornbäume mit ungewisser Zukunft.
Dass er sich vor allem während Auslandsaufenthalten auch dem Menschen fotografisch nähert, zum Teil in umfangreichen Sozialreportagen, ist ein weniger bekannter Teil seines Schaffens. Ob in den Favelas Brasiliens oder in den Schwefelabbau-Halden Javas - er hat auch da keine Berührungsängste, sondern begegnet dem Gegenüber mit wertfreiem, respektvollem Blick. Anschliessend kann er sich jeweils mit neuer Energie wieder auf sein Tal einlassen.
Als ab 2007 zuhinterst in den Glarner Bergen das Kraftwerk Linth-Limmern zu einem riesigen Pumpspeicherwerk ausgebaut wurde, mit massiven Eingriffen in eine bis anhin unberührte hochalpine Landschaft, war Fridolin Walcher von Beginn weg mit der Kamera dabei. Denn: «Wenn ich etwas nicht verhindern kann, will ich es wenigstens dokumentieren. Und so ein Mahnmal schaffen.» 2017 erhielt er für seine Langzeitreportage den Ostschweizer Medienpreis.
2014 wandte sich Fridolin Walcher den kleinen, alten Ställen zu, die locker über die Wiesen gestreut das Gesicht seiner Heimat mitprägen. «Kapellen des Alltags» nennt er sie. Immer mehr von ihnen stehen leer. Was soll mit ihnen passieren? Dass sie zu billigen Ferienhäuschen umfunktioniert werden könnten, ausserhalb der Bauzone, diese Möglichkeit beunruhigt Fridolin Walcher zutiefst. Da dünkt ihn das Abreissen die bessere Variante.
Vergangenes Jahr, als er seine grossformatigen Stall-Fotos im von ihm mitgegründeten Lese- und Kulturcafé Bsinti in Braunwald ausstellte, initiierte er ein Begleitprogramm mit viel Raum für Auseinandersetzung. Wohin mit der Glarner Landschaft - alpine Brache, Disneyland oder lebendiger Existenzraum? Darüber wurde diskutiert und gestritten. Fridolin Walcher war immer mitten drin.
Verfasserin: Ursula Binggeli, sfd