Sie kommen per Post: tausend Regenwürmer in einem quadratischen Block Erde, eingepackt in ein Paket. Einmal ausgeschüttet, beginnen sich die rund zehn Zentimeter langen Tiere zu winden, als wollten sie sich von den Erdklümpchen befreien, die auf ihrer schleimigen Haut kleben.
Einige scheinen sogar zu hüpfen. Wenn ich mit dem Ohr ganz nah an sie herangehe, höre ich, wie sie sich übereinander schieben und dabei ein leises Quietschen erzeugen. Der Soundtrack eines Horrorfilms. Es ist keine spontane Sympathie, die ich bei diesem ersten gegenseitigen Kennenlernen empfinde. Die Masse sieht unappetitlich aus. Man stelle sich einen Teller mit aufgewärmten Tomaten-Spaghetti vor, trocken gebraten und mit Reibkäse paniert. Bevor mir die Würmer ans Herz wachsen, fressen sie sich erst einmal in meine Träume.
Aber von vorne. Rund ein Jahr bevor meine neuen Haustiere im Milchkasten lagen, bestellte ich online das System Wormup: eine handgemachte Tonne aus Ton, in die man Küchenabfälle wirft. Die Würmer wandeln sie in wunderschöne Erde um. So einfach stellte ich mir das jedenfalls vor.
Dass es mir um Nachhaltigkeit geht, ist nur die halbe Wahrheit
In der Schweiz landen jedes Jahr über 500 000 Tonnen Bioabfall im Müll. Damit könnte man Lastwagen füllen, die eine Kolonne von Basel nach Chiasso bilden.
Die Abfälle werden transportiert und verbrannt – in anderen Ländern auch gelagert. Das kostet Geld, Energie und setzt Schadstoffe frei. Seit meiner ersten Wanderung als Kind weiss ich, dass ich ein Öpfelbütschgi im Wald auf den Boden werfen darf, weil es dort zu Erde wird. Wormup ermöglicht es, diesen Naturkreislauf auch in einem städtischen Umfeld zu schliessen.
Entworfen hat das Teil ein Zürcher Start-up-Unternehmen. Es sammelte 2016 mit einem Spendenaufruf im Internet, einem sogenannten Crowdfunding, 80 000 Franken und verkaufte gleich 300 Wurmkomposter an Bewohner von Stadtwohnungen, die keinen Garten haben. Seither wächst das Unternehmen stetig. Sein Komposter verspricht, nicht zu stinken, und lässt sich auf dem Balkon, in der Küche oder wie bei mir in der Waschküche aufstellen.
Ich investierte 340 Franken, liess mich auf eine Warteliste setzen und war stolz darauf, meinen Lifestyle in Zukunft etwas nachhaltiger nennen zu dürfen. Wenn ich ehrlich bin, war meine Motivation aber weniger selbstlos. Mein stinkender Mistkübel ging mir auf die Nerven, und die Idee, weniger Abfallgebühren bezahlen zu müssen, gefiel mir.
Jetzt habe ich also plötzlich Wesen im Haus, deren Leben von mir abhängt. Daran dachte ich vorher nie. Ich habe weder Katze, Hund noch Kinder. Das Einzige, worum ich mich bisher kümmern musste, waren ein paar Zimmerpflanzen. Ein Anflug von Panik befällt mich. Werde ich jemals wieder länger in die Ferien fahren können?
Die Fütterung ist komplizierter als erwartet. Die Würmer lieben Abwechslung auf dem Speiseplan und folgen einer strengen Diät. Erlaubt sind Rüstabfälle, altes Obst und Gemüse, Blumensträusse, Kaffeesatz und Teebeutel. Auch Bananenschalen, Haare und im Mörser zerkleinerte Eierschalen sind erlaubt. Verboten sind gesalzenes und gekochtes Fleisch. Und Senfsamen. Senfsamen hassen Würmer massiv.
Die Viecher sind von meinen Kochkünsten wenig begeistert
Ich mache Mise en place für die erste Fütterung, schneide abgelaufenen Lauch und zerkleinere Bananenschalen und Grünzeug.
Das Ganze kommt zu den Würmern im Komposter, die sich inzwischen unter die Erde, mit der sie gereist sind, zurückgezogen haben. Über das Gemüse streue ich ein paar welke Rosenblätter und würze alles mit getrocknetem Kaffeesatz. Koffein soll Würmer fortpflanzungsfreudig machen.
Sie essen die Abfälle erst, wenn diese sich mit Hilfe von Mikroorganismen zu zersetzen beginnen. Bei der Zersetzung entsteht ein Schleim. Er würde in einem Abfallsack oder herkömmlichen Kompost zu stinken beginnen. Bei meinem System saugen die Würmer den Schleim ein und scheiden ihn als Humus wieder aus: wohlriechende Wurmscheisse, mit der sich zum Beispiel Pflanzen düngen lassen.
Kochen ist für mich sehr emotional. Wenn ich etwas serviere, das nicht gut ankommt, trifft mich das – auch wenn ich mir das natürlich nie anmerken lassen würde. Meine Würmer geben sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als ob sie mein liebevoll zubereitetes Salätchen mögen – auch wenn es, optisch betrachtet, genauso gut in einem hippen Restaurant meiner Heimatstadt Zürich serviert werden könnte.
Als ich nach ein paar Stunden den Deckel hebe, hat sich die gesamte Armee am Rand der Tonne verteilt und versucht, nach oben zu kriechen, als würde sie vor der Nahrung fliehen wollen. Es herrscht Hektik in diesem glibberigen Gewühl, das an die fädigen Aliens aus «Body Snatchers» erinnert – ein Horror-Science-Fiction, der mich als Teenager ängstigte. Body Snatchers zwängen sich nachts durch menschliche Münder und wollen so die Erde erobern.
Ich schlafe schlecht in dieser Nacht, träume von Riesenwürmern. Als Traumsymbol steht der Wurm für «Feinde und Gegner, die man sich oft durch eigene Rücksichtslosigkeit selbst schafft», sagt die Esoterik. Ich gehöre zum Glück nicht zu ihren Anhängern.
Am folgenden Tag entdecke ich neben einem Berg Wäsche Würmer auf dem Boden. Sie haben sich offenbar durch winzige Ritzen unter dem Deckel gezwängt. Einer hat es sogar fast bis zur Tür geschafft und zappelt, als ich ihn aufhebe und in seinen Käfig zurückwerfe. Wenn sich die Würmer wohlfühlten, erfahre ich in einem Online-Forum, hätten sie keinen Grund, den Kompost zu verlassen. Ich schlucke leer.
Charles Darwin nannte es das wichtigste Tier der Erde
Die Sache geht mir unerwartet nahe, was mir gegenüber mir selbst peinlich ist. Reiss dich zusammen, sind doch nur Würmer, sage ich zu mir. Trotzdem beginnen mich Fragen zu beschäftigen: Rede ich mir fälschlicherweise ein, dass die Würmer in der Tonne wie im Schlaraffenland leben? Fällt das bereits unter Massentierhaltung? Fühlen sie sich in ihrer Freiheit beraubt? Bin ich gemein?
Ich lese, dass die Art, die ich besitze, auch Kompostwurm genannt, überdurchschnittlich viel organisches Material als Nahrung benötigt – besser als bei mir könnten es die Tiere also nicht haben. Sie sehen und hören nichts, atmen über die Haut und verfügen über einen Tastsinn und fünf kleine Herzchen. Ob sie Schmerz empfinden, ist umstritten. Für alle anderen Gefühle dürfte ihr Hirn dann wohl doch etwas zu klein sein.
Umso grösser ist ihre Wichtigkeit für die Natur. Regenwürmer stabilisieren mit ihrem Kot die Böden, düngen und durchlüften sie und eliminieren Schädlinge. Evolutionsforscher Charles Darwin (1809–1882) widmete dem wichtigsten Tier der Erde, wie er es nannte, 1881 ein Buch. US-Autorin Amy Stuart lobpreist die laut ihrer Ansicht verkannten Helden in ihrem Standardwerk «Der Regenwurm ist immer der Gärtner» (2014) als «Gedärme der Erde» und «Pflug der Natur».
Meine Anfangsschwierigkeiten liegen jetzt vier Monate zurück, und den Würmern gehts prächtig. Sie fressen fröhlich und haben das unterste Drittel des Komposts bereits mit dickem, fettem Humus gefüllt. Ich kann jetzt nicht mehr an der Waschküche vorbeilaufen, ohne schnell zu schauen, was die Population gerade so treibt, oder die Feuchtigkeit in der Tonne zu prüfen. Wenn es darin nach frischer Erde duftet, ist es wieder einmal Zeit für eine Fütterung.
Noch weitere Haustiere sind hinzugekommen
Die Wurmschar ein paar Wochen alleine zu lassen, ist kein Problem, wie ich inzwischen weiss, denn Würmer fressen Ausgeschiedenes bis zu sieben Mal wieder.
Das System braucht ungefähr so viel Aufmerksamkeit wie eine anspruchsvolle Zimmerpflanze. Wer nicht gerade zum Typ gehört, bei dem Kakteen vertrocknen, dem kann ich es nur empfehlen. Es sind jetzt noch mehrere Zehntausend neue Haustiere hinzugekommen: kleine Milben, die wie winzige Spinnen aussehen, und sich alle im selben Zeitlupentempo zu bewegen scheinen. Zu ihnen ist mein Verhältnis nach wie vor distanziert.
Die Zeit ist gekommen, mich der Beurteilung eines Profis zu stellen. Ich lade einen der Gründer von Wormup in meine Waschküche ein. Erich Fässler (36) ist Umweltingenieur und in der Firma fürs Wohlbefinden der Würmer zuständig.
Ich bin ein wenig irritiert, als er routiniert den Deckel der Tonne öffnet und mit den Händen im Kompost herumwühlt, als wäre es sein eigener. «Das sieht ja schon mal sehr gut aus», sagt er. Ich habe über die Fütterungsmengen stets Buch geführt. Im Moment verdauen meine Würmer 630 Gramm Abfall pro Woche, irgendwann sollte rund ein Kilo möglich sein. «Respekt fürs Wägen», sagt Fässler. Ich platze beinahe vor Stolz.
Als er Überreste eines Adventskranzes entdeckt, tadelt er mich. Sie seien sehr schwer abbaubar wegen der ätherischen Öle. Langsam begreife ich, dass mein Kompost eine Miniaturausgabe der Natur abbildet, wo sich schnell und langsam abbaubare Stoffe die Waage halten. Hätten Mikroorganismen unendlich viel zu essen, sagt Fässler, würden sie als Masse in schätzungsweise zwei Wochen das Volumen der Erdkugel erreichen. Oder in etwas kleineren Dimensionen ausgedrückt: Ein Kaffeelöffel Humus beinhaltet so viele Mikroorganismen, wie Menschen auf der Erde leben.
Als Wurmpapa geniesst man volle Aufmerksamkeit
«Wie gehts deinen Würmern?», fragen mich meine Kollegen in der Redaktion inzwischen und lechzen nach Geschichten aus dem Leben mit meinem neuen Haustier. Liegts daran, dass ich nicht unbedingt dem Stereotyp des Ökos entspreche, den man mit Kompostieren in Verbindung bringt? Oder finden sie mich einfach nur komisch? Ich habe es noch nicht herausgefunden.
Was ich weiss: Weil ich mir ständig überlegen muss, was ich den Würmern verfüttere, merke ich erst, wie viel Abfall in meinem Alltag anfällt. Im Moment kann ich längst nicht alles, was sich anhäuft, in die Tonne werfen. Nur einmal musste ich spätnachts extra an die Tankstelle düsen, um einen geschnittenen Salat für die Würmer zu kaufen. Nachhaltig ist anders.
Ich war schon für eine Reportage mit Studenten unterwegs, die aus ökologischen Gründen abgelaufenes Essen aus Müllcontainern fischen und essen. Danach war ich sensibilisiert darauf, wie viele Lebensmittel ich einkaufe. Ich habe den ehemaligen US-Vizepräsidenten und Umweltschützer Al Gore interviewt und mir vermehrt Fragen zur Erderwärmung gestellt. Und ich habe diszipliniert gefastet und anschliessend bewusster gegessen. Alle Einsichten hielten nicht lange an.
Seit ich den Wurmkomposter habe, hat sich das geändert. Ich muss mir gezwungenermassen regelmässig Gedanken darüber machen, was ich wegwerfe, was abgebaut werden kann, und habe immer wieder ein kleines Modell der Natur vor Augen, die ich im städtischen Alltag schnell aus den Augen verliere. Meine Würmer haben mich tatsächlich zu einem nachhaltigeren, vielleicht sogar besseren Menschen gemacht – mit wohlriechendem Mistkübel und weniger Ausgaben für Abfallgebühren.