Als ich im März 1969 zehn Jahre alt wurde, hatte ich bereits halb Europa auf der Suche nach den schönsten und seltensten Schmetterlingen bereist. Obwohl seither fast 50 Jahre vergangen sind, gilt trotz all der Erfahrungen für mich noch immer, was der berühmte Schriftsteller und passionierte Falterjäger Vladimir Nabokov (1899–1977) einmal so formulierte: «An Gefühlen und Begierden, an Ehrgeiz und Erfüllung habe ich in der Tat nur wenig kennengelernt, was reicher und stärker war als die Erregung entomologischer Erkundungszüge.»
Mein polnischer Ziehvater Viktor hatte mich im Alter von sieben Jahren mit der Welt der Schmetterlinge vertraut gemacht. In seinem hellroten Opel Rekord 1700 sind wir von 1966 an Tausende von Kilometern durch Europa gegondelt, um unsere Sammlung um die seltensten, vielleicht im einstigen Jugoslawien oder an der stürmischen Côte D’Azur fliegenden Exemplare, zu erweitern. «Meine Freuden sind die stärksten, die der Mensch kennen kann: das Schreiben und die Schmetterlinge», hat Nabokov, Schöpfer des Welterfolgs «Lolita», später seinem Tagebuch anvertraut; er, der auf seiner Jagd Anfang der Fünfzigerjahre nicht weniger als 250 000 Kilometer durch Amerika fuhr, «einzig, um einen bestimmten Falter zu erhaschen!», wie er später schrieb. Heute, nach nunmehr 50 Jahren Falter-Leidenschaft und neun veröffentlichten Romanen, weiss ich, was er meinte.
Die erregendsten Stunden meines Lebens
Ungezählte Nachmittage habe ich damals, als Zehnjähriger, in den sommerlichen Mainauen nahe Frankfurt verbracht, um die dornige Raupe eines Distelfalters zu finden oder einen irisierend durch Sonnenlicht schaukelnden Schachbrettfalter zu jagen. Es waren damals neben den Erkundungszügen durch Spanien, Italien, Frankreich, Schweden oder Jugoslawien zweifellos die schönsten und erregendsten Stunden meines Lebens. Später, als junger Mann, habe ich manches versucht, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich habe als Schadensregulierer bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet, habe als Philosophiestudent nach Kants «Ding an sich» gefahndet und mich eine Zeit lang als Tennislehrer durchgeschlagen. Berufe kamen und gingen – doch meine Liebe zu den Schmetterlingen blieb. Darüber war ich irgendwann zum Schriftsteller geworden – und hatte 1997 erfolgreich meinen ersten kleinen Roman «Tod eines Eisvogels» veröffentlicht. Natürlich spielte darin der namensgleiche Schmetterling, der Kleine Eisvogel (Limenitis camilla), eine besondere Rolle. Seither flattern durch all meine Bücher – inzwischen sind es neun – Schmetterlinge.
Im Frühling 2000 verschlug es mich dann aus beruflichen Gründen in die Schweiz, nach Baden, im Aargau – wo ich augenblicklich das Gefühl hatte, im Herzen der Schönheit angelangt zu sein: In einer Welt, die mit ihrer noch wunderbar intakten Fauna und Flora für mich als Schmetterlingsnarr wie geschaffen war. Wenn ich etwa im nahen Bremgarten in den Wäldern, im ferneren Gstaad BE und in Sils Maria GR oder in der alpinen Gegend um Montreux VD an den blumenreichen Hängen stand, sah ich vieles von dem, was ich bisher nur aus meinen Schmetterlingsbüchern oder von Fotos im Internet kannte, plötzlich in natura vor mir. Für einen wie mich ein entomologischer Traum!
Kleine Eisvögel, Landkärtchen, Trauermäntel und Kaisermäntel oder Abendpfauenaugen gehören dort noch selbstverständlich zum Naturbild. Und die immer seltener werdenden und bereits auf der Roten Liste gefährdeter Arten stehenden Schwalbenschwänze (Papilio machaon) etwa, deren Raupen in der Schweiz gern auch Rüebliraupen genannt werden, sind anders als in Deutschland oder Österreich glücklicherweise ebenso häufig anzutreffen wie die grossen, geheimnisvollen Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos), deren riesige Raupen die Kartoffelpflanzen fressen. Spätestens seit Jonathan Demmes Film «Das Schweigen der Lämmer» sind sie auch Laien bekannt. Denn der von Jodie Foster in der Rolle der FBI-Agentenanwärterin Clarice Starling gejagte irre Frauenkiller und Falter-Freak Jame Crumb alias «Buffalo Bill» schiebt seinen Opfern als «Signatur seines Tötens» die Puppe eines Totenkopfschwärmers in den Rachen.
Gerade mal 14 Tage lebt dieser kleine Schönling
Doch wer zum Beispiel einen Schwarzen Apollofalter (Parnas-sius mnemosyne) aufspüren will, muss hoch hinaus. Genauer: in die Höhe des Berner Oberlands. Die natürlichen Habitate dieses standorttreuen Falters beschränken sich auf wenige Alpenregionen in Höhen bis zu 2500 Meter. Dort gedeihen die feuchten, blumenreichen Bergwiesen mit ihren Beständen des Lerchensporns, an denen seine dunkle Raupe frisst.
Der mit 45 bis 60 Millimetern Flügelspannweite durchschnittlich grosse Schwarze Apollo ist der unscheinbarste aller Apollofalter – und leicht mit dem Baumweissling (Aporia crataegi) zu verwechseln, denn seine gänzlich weissen Flügel sind ebenfalls von dunklen Adern durchzogen. Die Flügelspitzen sind jedoch nur beim Schwarzen Apollo grau und durchscheinend. Er bildet nur eine Generation pro Jahr – und lässt sich am besten zwischen Mai und Juli beobachten. Die männlichen Falter fliegen vormittags umher auf der Suche nach paarungswilligen Weibchen – reagieren bei Störung aber sehr empfindlich und lassen sich sodann wie abgeschossene Vögel reglos ins Gras fallen. Also Vorsicht bei der Beobachtung!Die Lebensdauer des schönen Falters beträgt gerade einmal 14 Tage – wegen seiner hohen Ansprüche an seine Umwelt wie gleich bleibende Feuchtigkeit und gesicherte Futterversorgung ist der weisse, selten gewordene Gaukler an die Gebirgshänge des Berner Oberlands gebunden. Unter Hobby-Entomologen ist er inzwischen so begehrt wie Erstausgaben von Franz Kafka oder Robert Walser unter Büchersammlern.
In Graubünden kann man sehr viele Falter beobachten
Ähnliches gilt inzwischen übrigens auch für den Engadiner Bär (Arctia flavia), der nur noch stellenweise im Kanton Graubünden in Sils Maria und Umgebung anzutreffen ist. Der sehr seltene, bis in einer Höhe von 3000 Metern lebende Bärenspinner ist gewöhnlich zwischen Silser- und Silvaplanersee zu Hause. In Deutschland fehlt er inzwischen völlig, während man den weiss-braun gefleckten Falter noch häufiger in Graubünden und im Öztal antreffen kann.
Dieser nachtaktive Falter benötigt bis zu drei Jahre Entwicklung, wobei auch ihn ein aussergewöhnliches Tarn- und Abwehr-verhalten charakterisiert. Was ihn zu etwas ganz Besonderem im Reich der Falter macht, ist sein Tympanalorgan. Ein Schall-Sinnesorgan, das in Schwingungen versetzt wird, sobald es von Schallwellen getroffen wird. Seine Aufgabe ist es, die Ultraschall-Laute von Fledermäusen hörbar zu machen, es dient dem Falter der Gefahrenabwehr.
Zudem kann dieser durch Muskelkontraktionen auch selbst Ultraschall-Laute erzeugen, die auf seine Fressfeinde abschreckend wirken. Häufig kann man beobachten, wie der Falter nachts Lichtquellen anfliegt. Tagsüber sitzt er reglos mit geschlossenen Flügeln an Baumstämmen und Hauswänden – und ist ein leichtes Opfer für jeden Beobachter. Und wer auf die Beobachtung der wahren Riesen unter Europas Nachtschmetterlingen aus ist – auf die sogenannten Wiener Nachtpfauenaugen (Saturnia pyri), die eine Spannweite von bis zu 140 Millimetern erreichen –, der wird ebenfalls im Engadin fündig. Dort kann man dem Riesen zwischen Mai und August in der Dämmerung zusehen, wie er – einer Fledermaus gleich – die brennenden Laternen umkreist.
Extase erleben zwischen all den seltenen und schönen Faltern
Ich habe die Schweiz leider aus familiären Gründen nach nur fünf Jahren im Spätsommer 2005 wieder verlassen müssen – und lebe seither in Köln (D). Doch wann immer ich kann, setze ich mich im beginnenden Frühsommer in den Wagen oder in den Zug, um für ein paar Tage in meine Schmetterlings-Schweiz zurückzukehren. Dorthin, wo für mich das Falter-Glück vollkommen ist, weil dort die von mir geliebten Flieger, Gleiter und Gaukler die Magerweisen und Berghänge noch so selbstverständlich bevölkern, als gäbe es das grosse Faltersterben, das sämtliche Naturkundler mittlerweile beklagen, nicht.
Dann erlebe ich jeweils wiederkehrend das, was Vladimir Nabokov, der in der Region um Montreux 14 Jahre lang seine Falter-Seligkeit geniessen durfte, auf dem Balkon seines Zimmers im Montreux Palace sitzend, einst so beschrieb: «Und am meisten geniesse ich die Zeitlosigkeit, wenn ich – in einer aufs Geratewohl herausgegriffenen Landschaft – unter seltenen Schmetterlingen und ihren Futterpflanzen stehe. Das ist Extase, und hinter der Extase etwas anderes, schwer Erklärbares. Es ist wie ein kurzes Vakuum, in das alles einströmt, was ich liebe.»