Es ist noch etwas unsicher auf seinen langen, krummen Beinchen: Gerade mal 20 Kilo wiegt das 2 Tage alte Wisentkalb, einen Bruchteil seiner 400-Kilo-Mutter. Das Kälbchen ist eine kleine Sensation, denn die europäischen Bisons sind in der Schweiz längst ausgestorben. «Es ist die allererste Wisentgeburt ausserhalb eines Zoos seit rund 1000 Jahren», erklärt Otto Holzgang (57), Projektleiter des Vereins Wisent im Thal.
Ziel ist es, das grösste verbliebene Wildtier Europas in der Schweiz wieder anzusiedeln. Darum leben auf der Sollmatt in Welschenrohr seit letztem September fünf Wisente in einem 50 Hektaren grossen Gehege, ein grosser Teil davon befindet sich in einem Stück Wald. Dorthin führt uns Benjamin Brunner (65), der Ranger und Biobauer hat ein Teil seines Grundstücks für das Projekt zur Verfügung gestellt und weiss meistens, wo sich die inzwischen 6-köpfige Herde aufhält. Und da sind sie tatsächlich, diese gigantischen Urtiere, die gemächlich zwischen Büschen und Bäumen an Blättern kauen, auch Baumrinde mögen sie.
Abstand halten zum Muttertier
Wichtig ist, genug Abstand zu halten: «Mindestens 50 Meter, jetzt wo das Kälbli da ist, lieber 70 Meter», erklärt Brunner. Wie herzig das Kälbli ist, lässt sich also am besten mit einem Feldstecher beobachten. Normalerweise ist das Gelände frei zugänglich, am Wochenende bleibt das Tor am elektrischen Gehege aber geschlossen. «Mutterkuh und Kalb müssen sich eingewöhnen, und dann führen wir die Besucher sicherheitshalber mit Guides zu der Herde.» Als sich die Wisente aus dem Wald auf die offene Wiese bewegen, wird die Nervosität der Mutterkuh bemerkbar, sie lässt uns nicht aus den Augen. Immer wieder hebt sie den Kopf und schüttelt ihn: «Das sind typische Drohgebärden», erklärt Projektleiter Holzgang. «Man muss einfach ein paar Schritte zurück, dann entspannt sich die Situation wieder.»
Offensichtlich sind wir dabei nicht schnell genug: Plötzlich macht das 400-Kilo-Tier einen Sprint auf unsere kleine Journalisten-Gruppe zu. Als wir losrennen, dreht sie wieder ab. «Passieren tut nichts, Wisentkühe sind ja keine Raubtiere, sie verteidigen einfach ihr Kalb», erklärt Holzgang. Das Junge hat sich derweil auf die Wiese gelegt, obwohl das Gras kaum höher als zehn Zentimeter ist, kann man es kaum noch sehen. «Es sind zwar wuchtige, aber auch sehr schmale Tiere», so Ranger Brunner. «Das hat die Natur so eingerichtet, so können sie sich durchs Dickicht bewegen.» Darum sehe man auch nicht, ob ein Wisent trächtig ist. Deshalb ist es gut möglich, dass es bald noch mehr Zuwachs gibt auf der Sollenmatt. Einen Namen hat das Kälbli übrigens nicht, mit Absicht: «Es sind Wildtiere und wir wollen das nicht emotional aufladen», sagt Holzgang. Wenn mit dem Projekt alles gut läuft, wird die Herde ausgewildert - und das kleine Kälbli wäre dann das erste, das in Halbfreiheit geboren wurde, um ganz in Freiheit entlassen zu werden.