Mit Hunden gegen den Wolf
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Hirtin schützt Schafe:Mit Hunden gegen den Wolf

Hirtin Jacqueline von Arx (37) schützt Schafe auf der Surettaalp
Mit Hunden gegen den Wolf

Auf der Schafalp Suretta GR sömmern jedes Jahr mehrere Hundert Schafe. Um sie gegen den Wolf zu schützen, werden sie von Herdenschutzhunden bewacht. Eine Wanderung mit Hirtin Jacqueline von Arx (37).
Publiziert: 15.08.2020 um 18:54 Uhr
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Aktualisiert: 17.08.2020 um 11:11 Uhr
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Für Älplerin Jacqueline von Arx (37) ist es die zweite Saison auf der Schafalp Suretta oberhalb von Surfers GR.
Foto: Nathalie Taiana
Anna Lea Spörri

«Schön sind er da!», ruft eine Frau mit Cowboyhut, Hirtenstock und Hund. Pino hilft seit fünf Jahren auf der Surettaalp oberhalb von Sufers im Kanton Graubünden beim Schaftrieb mit. Für Jacqueline von Arx ist es die zweite Saison. Mithilfe von vier Herdenschutzhunden, ihrem Hirtenkollegen Peter Lüthi und ein bis zwei Gehilfen hütet sie diesen Sommer für eine halbe Alpsaison knapp 600 Schafe, 12 Pferde und Esel und 21 Kühe.

Kein Netz, kein Kühlschrank

Auf einem rot-weiss gekennzeichneten Wanderweg geht es Richtung Surettalp. Mitten durch eine Kuhherde, vorbei an Pferden und Eseln. Nach einer Stunde Fussmarsch ist die Hütte erreicht. Während der Alpsaison, die dieses Jahr vom 22. Juni bis zum 25. September dauert, wohnt Jacqueline von Arx hier auf 1750 Höhenmetern. Elektrizität gibt es nicht, der Kühlschrank ist eine mit Wasser gefüllte Badewanne. Neben allerlei Lebensmitteln steht ein Fläschchen «Arnika zum Iiribe», eine entzündungshemmende Pflanze, auf dem Gestell. «Für die Schafe», erklärt von Arx. Wenn sich eines verletzt, verarzten die Hirten es so gut wie möglich selbst. In schweren Fällen wird der Besitzer des Schafes informiert und je nach Situation der Tierarzt konsultiert.

Knapp 80 Prozent waren unbehirtet

Laut Pro Natura sömmerten 2017 von 350'000 Schafen in der Schweiz rund 200'000 Tiere. Nur gut 22 Prozent davon waren behirtet. Während die Anzahl Schafe die letzten drei Jahre ungefähr konstant blieb, hat sich der Anteil der behirteten Herden in den letzten 15 Jahren nahezu verdoppelt. Dennoch machen rund die Hälfte aller Schafweiden in der Schweiz die unbehirteten aus. Dort passierten mit Abstand die meisten Schafrisse: 2018 waren es 90 Prozent. Der Wolf ist immer wieder ein Politikum. Am 27. September stimmen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über ein revidiertes Jagdgesetz ab.

Das neue Jagdgesetz

Am 27. September kommt das neue Jagdgesetz vors Volk. Dieses will vor allem eines: den Schutz des Wolfs lockern. Neu soll das Raubtier auch dann geschossen werden dürfen,
wenn es noch keinen – und nicht wie bisher einen erheblichen – Schaden angerichtet hat. Entscheiden über Leben und Tod soll neu nicht mehr der Bund, sondern die Kantone. Damit wird auf die wachsende Anzahl Wolfsrudel in der Schweiz reagiert und die damit verbundenen Konflikte, insbesondere bei der Schafhaltung.

Eine andere Möglichkeit: Herdenschutz statt Wolfsabschuss. Um die Schafe vor dem Wolf zu schützen, wird immer mehr auf Herdenschutzhunde gesetzt. Doch das ist teuer und aufwendig. Aber die meisten sind sich einig, dass dies eine gute Sache ist. Ob der Wolf eine gute Sache ist, darüber streiten sich diverse Parteien. Seit der Wolf zurück ist, ist er immer wieder Thema auf der Politbühne.

Getty Images/Imagebroker RF

Am 27. September kommt das neue Jagdgesetz vors Volk. Dieses will vor allem eines: den Schutz des Wolfs lockern. Neu soll das Raubtier auch dann geschossen werden dürfen,
wenn es noch keinen – und nicht wie bisher einen erheblichen – Schaden angerichtet hat. Entscheiden über Leben und Tod soll neu nicht mehr der Bund, sondern die Kantone. Damit wird auf die wachsende Anzahl Wolfsrudel in der Schweiz reagiert und die damit verbundenen Konflikte, insbesondere bei der Schafhaltung.

Eine andere Möglichkeit: Herdenschutz statt Wolfsabschuss. Um die Schafe vor dem Wolf zu schützen, wird immer mehr auf Herdenschutzhunde gesetzt. Doch das ist teuer und aufwendig. Aber die meisten sind sich einig, dass dies eine gute Sache ist. Ob der Wolf eine gute Sache ist, darüber streiten sich diverse Parteien. Seit der Wolf zurück ist, ist er immer wieder Thema auf der Politbühne.

Dieses Jahr wurden bis jetzt 94 Schafe gerissen. Diesen stehen jährlich rund 4200 «natürliche Abgänge» von Schafen gegenüber. Das können Abstürze, Vergiftungen und verschiedene Krankheiten sein. Auch dass sich Schafe im Netz des Nachtpferchs verheddern. Auf der Schafalp Suretta sind 2020 bis dato acht Schafe gestorben, keines durch den Wolf. «Steinschlag ist bei uns die grösste Gefahr», sagt von Arx.

«Richtig durchgeführter Herdenschutz ist eine gute Lösung»

Trotzdem sind unter anderem der Schweizer Bauernverband und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete der Meinung, dass der Herdenschutz, wie er heute betrieben wird, nicht ausreicht. Sie befürworten das neue Jagdgesetz. Laut ihm dürfte man Wölfe aus einem Rudel erlegen, bevor ein Schaden entstanden ist. Beispielsweise wenn das Tier in Siedlungen auftaucht.

Jacqueline von Arx sieht das anders. Richtig gehandhabter Herdenschutz sei eine gute Lösung – für Schaf und Wolf. «Als Älplerin bin ich pro Schaf, aber ich bin als Ökologin auch pro Wolf», sagt die ehemalige Geschäftsführerin von Pro Natura Graubünden. Zwar teilen die Schafbesitzer diese Pro-Wolf-Haltung der Hirten nicht, aber über die Vorteile des Herdenschutzes sind sich alle einig.

Wie in der Badi

Warum es hier so gut funktioniere, sei eine Frage der Erfahrung. «Peter Lüthi und die Alpmeister haben den Herdenschutz mit Hunden auf Suretta 2013 eingeführt. Seit dieser Zeit haben wir viel gelernt über die Herdenführung mit Herdenschutz und das Tal Suretta», sagt von Arx. Die meisten Tiere kämen schon seit vielen Jahren und würden das Gebiet sehr gut kennen. Gleich sei es bei den Hunden.

Auch die Grösse der Herde sei entscheidend: «Das ist wie in der Badi. Muss ein Bademeister auf sieben Bassins aufpassen, schafft er das natürlich nicht. Wenn ein Hund eine zu grosse Herde bewachen soll, hat er keine Chance.» Auf der Schafalp Suretta hätten sie darum das ganze Programm. Nachts werden die Schafe in einem Pferch gesammelt, der unter Strom steht. Während ein Herdenschutzhund innerhalb des Geheges bleibt, wachen drei weitere ausserhalb des Gitters. So soll der Wolf schon früh abgewehrt werden und gar nicht bis zum Pferch kommen. «Wölfe beobachten sehr genau. Die Hunde ausserhalb des Geheges stören diesen Vorgang und machen es schwieriger für den Wolf, sich zu überlegen, wie er in den Pferch kommt», sagt von Arx. Der Hund innerhalb des Geheges ist nur für den Notfall gedacht. Tagsüber grasen die Schafe auf einer Weidefläche, die stellenweise von Zäunen begrenzt ist.

Doch kein Schaf

Der Weg zur Schafherde ist steil, von der Alphütte aus sind es 700 Höhenmeter. Einen Wanderweg gibt es nicht mehr. Durchschnittlich bleiben die Schafe eine Woche auf der gleichen Koppel, dann wird gewechselt. Die Weiden liegen hoch über dem Talboden auf bis zu 2700 Höhenmetern. Zieht die Herde in einen neuen Sektor, werden die Zäune abgebaut und weiterverschoben.

«Da sind sie!», sagt Jacqueline von Arx mit einem Blick durch den Feldstecher. Gemeint sind acht weisse Fleckchen am steinigen Berghang. Einer ist ein bisschen heller als die anderen. «Das ist Larry», sagt von Arx. Er ist einer von vier Herdenschutzhunden auf der Surettaalp. Nebst ihm sind noch zwei weitere Patou und ein Kangal, zwei typische Herdenschutzhunderassen, im Einsatz.

Teil der Herde

Herdenschutzhunde werden schon seit Jahrtausenden in Europa und Asien eingesetzt. In der Schweiz ist die Praktik seit der Rückkehr des Wolfs in den 1990er-Jahren geläufig. Damit ein Tier als Herdenschutzhund eingesetzt werden kann, muss es zuerst ein bis zwei Jahre lang ausgebildet werden. «Ein zentraler Aspekt der Ausbildung ist die Bindung an die Nutztiere. So wird der Hund seine Herde dann gegenüber Eindringlingen verteidigen», sagt Jan Boner, Herdenschutzbeauftragter der renommierten landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte Plantahof.

Schon von klein auf werden die Hunde mit den Schafen sozialisiert, schlafen bei ihnen im Stall und werden so quasi Teil der Herde. Der zweite wesentliche Aspekt sei der Umgang mit dem Menschen. «Der Hund wird an Kinder, Biker und überhaupt an ein grosses Spektrum menschlichen Verhaltens gewöhnt», so Boner. Da der Ausbildungs- und Zuchtbetrieb vom Bund finanziell unterstützt wird, kann der fertig ausgebildete Hund für ungefähr 1500 Franken verkauft werden. Sonst wäre der Preis massiv höher.

Laut Agridea, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der kantonalen Fachstellen, sind aktuell 250 Herdenschutzhunde auf 100 Schweizer Alpen im Einsatz. Tendenz steigend. Obwohl Herdenschutz auch mit Eseln oder Lamas betrieben werden kann, ist dies in der Schweiz nicht verbreitet. Im Gegensatz zu den Hunden wird dies nicht vom Bund unterstützt.

Heidi-Kulisse

Im steinigen Tal zwischen zwei Bergrücken stehen sie und blöken. Die Schafe suchen sich immer wieder ein schattiges Plätzchen unter einem Felsvorsprung. Zwischen dem ganzen Geröll kann man sie fast nicht erkennen. Sultan und Larry, zwei der Herdenschutzhunde auf der Suretta, kommen auf die Älplerin zugelaufen. Freudig begrüssen sie Jacqueline von Arx. Sie bellen kurz, beschnuppern die Eindringlinge, verstummen. «Wir müssen jetzt dann mit dem Zusammentreiben beginnen. Sonst schaffen wir das nicht, bis es dunkel wird.» Ihr Tag ist erst fertig, wenn alle Schafe im Nachtpferch sind. An diesem Tag wird es bis abends um zehn Uhr dauern.

Blühende Alpenrosen, der plätschernde Surettabach unten im Tal und im Hintergrund der immer kleiner werdende Surettagletscher: Die Landschaft könnte die Kulisse für einen neuen Heidi-Film sein. «Letztes Jahr kam hier eine Gruppe Wanderer vorbei, ich sass gerade auf einem Stein und beobachtete die Schafe, da meinte einer zu mir: ‹Du hesch denn en easy Job!› Da dachte ich mir: Steh du mal mit mir morgens um sechs Uhr bei Regen auf», erzählt von Arx mit einem Lachen. Mit jemandem tauschen würde sie trotzdem nicht. Dafür sei es auf der Alp viel zu schön.

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