Hai-Forscher Erich Ritter im Interview
«Haie haben Charakter»

Haie können frech, schüchtern oder sogar grössenwahnsinnig sein, sagt der Schweizer Zoologe Erich Ritter. Er liebt die Tiere, obwohl ihn ein Bullenhai beinah ein Bein gekostet hat.
Publiziert: 12.01.2016 um 12:41 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:58 Uhr
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Fühlt sich wohler unter Raubfischen als unter Menschen: Forscher Eric Ritter im Sey Life in München mit einem Schwarzspitzen-Riffhai.
Foto: Quirin Leppert
Carmen Schirm-Gasser

Es war ein Mensch, der die Katastrophe herbeiführte, eine Unachtsamkeit, die Hai-Forscher Erich Ritter beinahe das Leben gekostet hätte. Vor fast 14 Jahren, während den Dreharbeiten zur TV-Serie «Shark Week» von Discovery Channel, biss ein 200 Kilogramm schweres Bullenhai-Weibchen ins Bein des Schweizer Forschers. Als sich Ritter losriss, um vom Tier nicht ins tiefe Wasser gezogen zu werden, wurden Schien- und Wadenbein durchtrennt. Er verlor derart viel Blut, dass es trotz rascher ärztlicher Versorgung lange Zeit fraglich war, ob er überleben würde. Eine 15-stündige Notoperation folgte, Ritter hatte Glück. Er konnte samt Bein gerettet werden. Eine Behinderung erinnert noch immer an die schicksalshafte Begegnung. Der Zürcher kann seinen Fuss nicht mehr bewegen, ihm fehlen die dazu nötigen Muskeln. Durch den Hai-Biss wurde Erich Ritter weltbekannt. Die Nachricht des Unfalls verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zwar wurde er auf den Bahamas unter anderem Namen ins Krankenhaus eingeliefert und abgeschirmt. Doch «CNN»-Reporter bekamen trotzdem Wind von der Sache und berichteten darüber. Grosse Fernsehsender sowie Zeitungen zogen nach. Der Film von Discovery Channel, der den Unfall dokumentiert, lief in über 100 Ländern. In den USA erreichte er die vierthöchste Einschaltquote des Jahres 2003 (Nummer eins war die Super-Bowl-Meisterschaft mit rund 800 Millionen Zuschauern).

 

Herr Ritter, Sie tauchen seit 30 Jahren mit Haien. Wie konnte ausgerechnet einem Profi wie Ihnen dieser Unfall passieren?Erich Ritter: Es war eine Reihe von Widrigkeiten. Für manche Experimente brauche ich sogenannte Spotter – Personen, die aufpassen und einen warnen, wenn sich ein Hai von hinten nähert. Mein Spotter passte nicht richtig auf. Hätte er mich gewarnt, hätte ich Massnahmen ergreifen und den Unfall verhindern können.

Weshalb biss der Hai überhaupt zu?
Haie beissen zu, um etwas Unbekanntes zu testen. Und hat ein Hai erst zugebissen, bleibt er bei seiner Beute und schaut, was passiert. Der Hai war also gerade dabei, mich in die Tiefe zu ziehen. Deshalb habe ich sofort mit aller Kraft mein Bein losgerissen.

Was ging in diesen Sekunden in Ihnen vor?
Ich sah meinen Tod, wie in einem Film. Mir war klar, dass ich wohl nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Und ohne höhere Macht hätte ich es wohl kaum geschafft.

Sie sprechen von Gott?
90 Prozent der Forscher sind Atheisten, mir aber hat dieser Vorfall einmal mehr gezeigt, dass es etwas Grösseres als uns Menschen gibt. Ich verlor damals beim Unfall ja sehr viel Blut, habe gegen jegliche Wahrscheinlichkeit überlebt.

Wie war die Zeit nach der Rettung?
Ich war plötzlich von anderen Menschen abhängig, konnte ganz viele Dinge nicht mehr alleine machen wie duschen, die Schuhe anziehen und anderes. Geschweige denn, am Ironman teilnehmen, den ich früher mehrmals gelaufen bin. Ich hatte sozusagen meine Männlichkeit verloren – man kann nicht mehr machen, was man einst gemacht hat.

Was bedeutete dieser «Betriebs-Unfall» beruflich für Sie?
Auch dieser Bereich wurde mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. Meine Sponsoren liessen mich fallen, die Universität, für die ich gearbeitet hatte, strich meine Kurse. Forscher-Kollegen waren hämisch und freuten sich, dass ich endlich gebissen wurde, denn in ihren Augen vertrat ich sehr ketzerische Ansichten. Nun hatten sie Gelegenheit, öffentlich zu sagen, meine Arbeit sei schlecht. Leute, die sich früher in meiner Bekanntheit gesonnt hatten, stellten sich plötzlich gegen mich. Es gab zwei, drei Kollegen, die meine Ideen sogar klauten und als die ihren präsentierten. Sie nahmen an, ich würde nie mehr zurückkehren und sie könnten meine Position einnehmen.

Sie aber kehrten zurück – und halten noch immer Vorträge über Ihre Arbeit, bald auch in der Schweiz. Auf den Fotos sieht man, wie Sie im freien Wasser Weisse Haie beobachten. Oder wie Sie mit blossen Füssen auf den Ködern stehen. Ist es die Gefahr, die Sie noch immer reizt?
Nein, absolut nicht. Das war vielleicht vor 30 Jahren so, damals, als ich das erste Mal zu den Haien ins Wasser gegangen bin. Davor hatte das ja keiner gemacht. Ich wusste also nicht, was einen da unten erwartet. Das war schon ein Kick. Mittlerweile treibt mich der Gwunder zu den Tieren, der Wunsch, mehr über sie zu lernen. Mit meinen Experimenten will ich zeigen, dass Haie für uns Menschen ungefährlich sind. Wir haben ein völlig falsches Bild von ihnen. Sie sind nicht dumm oder mordlustig. Sie sind hochintelligent, haben ein gutes Kurz- und Langzeitgedächtnis und sehen uns Menschen nicht als Nahrungsquelle.

Sie haben Ihre Erfahrungen in einem Buch zusammengefasst: «Mit Haien sprechen». Eine gewagte These.
Manche sehen das so. Ich habe diese These vor 15 Jahren zum ersten Mal proklamiert und bin damals dafür belächelt worden. Heute ist das nicht mehr so. Auch andere haben erkannt, dass es unter Haien durchaus eine Form der Kommunikation gibt, auch wenn sie sich unserem Bewusstsein entzieht. Unser Unterbewusstsein kann trotzdem mit den Tieren interagieren. Es ist wie mit einem Haustier, einem Hund oder einer Katze: Kennt man das Tier lange genug, braucht man es nur anzuschauen und weiss, was es denkt und wie es sich fühlt.

Sie scherzen: Haie sind für Sie wie Haustiere?
Manche schon, ja. Ich mag zum Beispiel Schwarzspitzenhaie sehr gerne. Sie sind sozusagen die Yorkshire Terrier der Meere: klein, frech und oft grössenwahnsinnig.

Grössenwahnsinnig?
Durchaus. Schwarzspitzenhaie sind klein, deshalb müssen sie sich in ihrer Welt ständig beweisen. Das signalisiert allein ihre Haltung. Sie haben tatsächlich das Gefühl, die Grössten zu sein. Trotzdem fühle ich mich sehr wohl in ihrer Nähe. Das erinnert an manche Menschen.

Lassen sich die beiden Spezies vergleichen?
Durchaus. Haie haben unterschiedliche Charaktere, so wie wir Menschen auch. Es gibt aufdringliche, scheue, lästige, intelligente, gelangweilte. Jedes Tier ist individuell. Auch wenn man inmitten von 20 bis 30 Haien taucht, jeder hat sein ureigenes Naturell.

Worüber führen Haie denn Dialoge?
Wenn ich das wüsste. Wie alle Tiere tauschen auch sie sich wahrscheinlich darüber aus, wo sie Futter herbekommen – oder welches Ziel sie anpeilen. Sie kommunizieren sehr intensiv miteinander, wir wissen nur nicht wie. Ich vertrete unter den Hai-Forschern die ketzerischste These. Ich glaube, dass Haie via Telepathie kommunizieren. Es ist bloss schwierig, Experimente zu machen, die das beweisen.

Sie sprechen mit grosser Liebe über Haie. Vergessen Sie dabei nicht, dass jedes Jahr mehrere Menschen durch Haie zu Tode kommen?
Pro Jahr gibt es sechs bis zehn Tote durch Haie. Vergleichsweise sterben jährlich 90 000 Menschen an Schlangenbissen. Um es nochmals klar und deutlich zu sagen: Hai-Unfälle passieren nicht aus Fress- oder Mordlust. Sie passieren einerseits, weil es zu riskanten Situationen kommt, in denen Menschen falsch reagieren oder die Rettungskette nicht funktioniert. Andererseits kann ein Hai durchaus auch mal in Stress geraten.

Vor Haien fürchten Sie sich nicht: Gibt es irgendetwas, wovor Sie Angst haben?
Es ist für mich beispielsweise ein echter Horror, im Winter in der Schweiz im Schnee zu fahren. Da habe ich richtig Angst. Ich gehöre entsprechend zu den ganz langsamen Autofahrern.

Wie wird man als Schweizer eigentlich zum Hai-Forscher?
Mit sieben sah ich im Fernsehen den ersten Film über Haie, und der liess mich nicht mehr los. Mit zehn Jahren las ich das Buch über Dr. Dolittle, was mich zur Überzeugung brachte, dass man mit Tieren reden kann. Zwei Jahre später eröffnete ich meiner Mutter, ich wolle Hai-Doktor werden.

Sie leben also Ihren Bubentraum?
Das kann man so sagen. Es ist das einzige Leben, das ich mir vorstellen kann. Immer auf dem Meer. An den schönsten Orten der Welt, ohne Chef oder nervige Kollegen.

Das klingt tatsächlich malerisch.
Mein Leben hat auch Schattenseiten. Privatleben gibts für mich kaum. Dafür bin ich zu viel unterwegs, neun Monate im Jahr, gezählte 270 Tage in und auf den Weltmeeren.

Haie statt Liebe?
Es ist der Preis, den ich für meine Leidenschaft zahle. Eine Partnerin erwartet ja eine gewisse Stabilität und will nicht von irgendwo auf der Welt einen Anruf bekommen, wo ich gerade arbeite.

Nach Ihrem Unfall: Hatten Sie jemanden, der für Sie da war?
Nicht lange. Meine damalige Verlobte war anfangs in einer Liebes-Euphorie. Dann aber kam der Alltag, und drei, vier Wochen nach meinem Krankenhaus-Aufenthalt die erste Krise. Es wurde immer klarer, dass ich mit einer Behinderung weiterleben werde. Kurz darauf verliess mich meine Partnerin.

Zweifelten Sie nie an Ihre Arbeit?
Nein, nie. Drei Monate nach dem Biss-Vorfall wiederholte ich erfolgreich das Experiment, das mich beinahe getötet hatte. Aber erst acht bis zehn Jahre später stand ich wieder da, wo ich vor meinem Unfall war. Ich musste mir meine Reputation, mein Ansehen in der Fachwelt neu erarbeiten. Ich forschte weiter, mit noch grösserem Einsatz.

Letzte Frage: Können sich Hai-Forscher gegen Unfälle versichern?
Meine Versicherung hat mich nach dem Unfall tatsächlich rausgeworfen. Erst wollte sie überhaupt nicht zahlen – dann erst, wenn das Bein amputiert wird. Ich habe mittlerweile wieder eine neue. Aber es war recht schwierig, eine zu finden.

Erich Ritter führt seine Leidenschaft für Haie an öffentlichen Vorträgen aus: Am 12. Januar im Burgbachsaal Zug, am 13. Januar im Volkshaus Zürich und am 14. Januar in der Aula Schönau in Steffisburg BE.

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